Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
gesagt hast: ›Du liebst sie doch nicht etwa auch‹?«
»Sie ist einfach wunderbar«, gab Henry unumwunden zu. »Es ist unmöglich, sie zu kennen und sie nicht zu lieben. Ich vermute schon lange, dass es Konrad genauso geht.«
Ich schüttelte den Kopf. Alle um mich herum waren verliebt – nur ich hatte keine Ahnung! Wie dumm war ich eigentlich?
»Hast du nie mit ihr über deine Gefühle gesprochen?«, fragte ich, während mich wieder die Eifersucht pikste. Ich hatte oft gedacht, dass die beiden eine Menge gemeinsam hätten – zum Beispiel ihre Begeisterung fürs Stückeschreiben. Wenn sie zusammen an unseren Theaterstücken arbeiteten, verbrachten sie viel Zeit miteinander. Worte und Gelächter flogen zwischen ihnen hin und her und später waren ihre Hände und Finger voller Tinte.
»Nein«, sagte Henry. »Und ich vertraue dir, dass du es für dich behältst. Sie würde mich niemals nehmen. Da mache ich mir nichts vor. Wenn sie da ist, fühle ich mich wie eine blasse, kraftlose Motte und kann nichts anderes tun, als ihre Flamme meiden.«
»Du hast wirklich die Sprache eines Dichters, Henry«, meinte ich bewundernd. »Würdest du, du weißt schon …«
»Was?«
»Für mich ein paar Sätze schreiben?«
Er blickte mich misstrauisch an. »Du willst, dass ich für dich eine Liebeserklärung schreibe?«
»Nur ein paar Kleinigkeiten. Du bist ein Genie, Henry«, sagte ich und erwärmte mich immer mehr für mein Anliegen, »und niemand hat ein solches Talent wie du. Nur fünf Worte von dir können den Sonnenuntergang stoppen.«
Er runzelte die Stirn. »Das ist gar nicht so schlecht, weißt du«, sagte er nachdenklich. »Vielleicht etwa so: ›Selbst der Sonnenuntergang hält inne bei deinem Anblick.‹«
»Ha! Siehst du!«, rief ich. »Du hast einfach Talent! Ich hätte das nie so hingekriegt.«
»Du hast es doch fast getan«, meinte er.
»Nein, das warst du, mein Freund! Ich hab doch gewusst, dass du mich nicht enttäuschen würdest! Du Genie!«
»Du schmierst mir ganz schön Honig ums Maul«, sagte er. »Aber es gefällt mir.«
»Du stellst Shakespeare in den Schatten. Noch zwei oder drei von diesen Bonbons und ich stehe für immer in deiner Schuld. Ich weiß doch, wie einfach dir diese Dinge von den Lippen gehen. Das macht dir doch sicher nichts aus, oder?«
»Ich schau mal, was ich machen kann«, sagte er zurückhaltend.
»Du bist ein echter Freund, Henry. Ich danke dir.«
Damit waren wir auch schon in dem Dorf angekommen, und ich sah mich nach dem Häuschen der Witwe um, das mir Polidori beschrieben hatte.
»Ist es das da?«, fragte Henry und deutete darauf.
Es war wirklich armselig, nur umgeben von einem tristen Garten mit Hühnern, Ziegen und einem Schwein.
Wir stiegen ab und banden unsere Pferde an.
»Und jetzt denk an unseren Plan«, sagte ich zu Henry.
Wir hatten uns gut angezogen, denn wir wollten so seriös wie möglich erscheinen.
Ich klopfte an die Tür. Innen bellte ein Hund, ein Baby schrie. Die Tür ging auf und eine große Frau mit einem mürrischen Gesicht füllte fast den ganzen Türrahmen aus.
»Ja, bitte?«
»Madame Temerlin, nehme ich an«, sagte ich.
»War ich mal«, antwortete sie und schniefte. »Jetzt Madame Trottier.«
Henry konsultierte das Notizbuch, das er als Requisite mitgebracht hatte. »Ah, ja, ich sehe, das ist hier notiert. Entschuldigen Sie bitte. Aber Sie waren doch einmal die Frau des verschiedenen Marcel Temerlin, oder?«
»War ich«, sagte sie zurückhaltend.
Henry und ich blickten uns an und lächelten.
»Nun, das ist eine gute Nachricht«, sagte ich. »Wir haben gehört, dass Ihr verschiedener Gemahl ein talentierter Kartograf war.«
»Wer schickt Sie?«, wollte sie wissen.
Henry und ich hatten uns schon vorher darauf verständigt, Polidori nicht zu erwähnen.
»Wir sind im Auftrag des Stadtarchivs unterwegs, Madame«, sagte ich und versuchte, meine Rolle gut zu spielen. »Der Magistrat hat eine vollständige kartografische Übersicht über die Republik angeordnet und Beauftragte wie uns ausgeschickt, um alles Material einzusammeln, was von historischem oder praktischem Nutzen sein könnte.«
Als ich ihr Zögern sah, zog ich einen Geldbeutel aus der Tasche und achtete darauf, dass er auch schön klimperte. »Wir sind ermächtigt, einen anständigen Betrag für Material zu zahlen, das wir für geeignet halten.«
»Das ist alles in einer Truhe im Stall«, sagte sie. »Ich hätte es fast verbrannt, als er gestorben ist. Ich war so
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