Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
unterschätzt, Carl.«
»Deine Mutter? Helga hat also …?«
Also steckte Helga hinter allem. Wer auch sonst? Manfred war viel zu jung, um die Bedrohung für den Hof zu erkennen. Es brauchte einen, der sich auskannte in Düstermühle. Der sich an die alten Geschichten erinnerte. Und das war seine Mutter Helga. Manfred war nur ihr Erfüllungsgehilfe gewesen.
Carl deutete auf den Bauernschrank. »Das Foto, das dein Vater aus Rosas Album genommen hat, ist es da drin?«
»Nein, was glaubst du? Das Foto ist längst verbrannt. Aber Mutter hat gesagt, dass du herkommen würdest. Sie sagte, die Geschichte würde dich nicht loslassen. Dafür wärst du viel zu neugierig. Ich solle achtgeben.«
»Na gut, dann ist das Foto also verbrannt. Aber ich weiß auch so, wer darauf abgebildet war.«
»Ach ja?« Manfred lachte. Das Gewehr hielt er unverändert auf seinen Brustkorb gerichtet.
»Es sind zwei Menschen auf einer Feier in eurem Garten«, sagte Carl. »Rosa hat mir das gesagt. Ich schätze mal, das Foto wurde im Sommer 1940 geschossen. Liege ich richtig?«
Manfreds Gesicht verdunkelte sich.
»Ob du richtigliegst oder nicht, interessiert keinen mehr. Du warst einfach zu wissbegierig. Und jetzt ist es zu spät für dich. Hättest du nur die Sache auf sich beruhen lassen, alter Mann.«
Carl dachte an das Handy in seiner Manteltasche. Wenn es ihm gelänge hineinzugreifen, konnte er vielleicht Christa erreichen. Sie würde Manfreds Stimme hören und wissen, was los war. Er wollte weiterreden und Manfred ablenken. Das war seine einzige Chance, hier mit heiler Haut herauszukommen. Wenn Manfred sich auf ein Gespräch mit ihm einließ, bot sich ihm vielleicht eine Möglichkeit, kurz in die Manteltasche zu fassen.
»Als das Foto gemacht wurde, lebte der Bruder deines Großvaters noch«, redete er einfach weiter. »Er hieß Rudolph Schulte-Stein. Und dein Großvater, Otto Schulte-Stein, wohnte noch in Düstermühle. Er und seine Frau Anna führten im Ort die Apotheke. Außerdem war er der Bürgermeister. Die Brüder hatten beide das, was sie wollten. Rudolph war der Hofherr auf dem Anwesen, und Otto hatte die Apotheke und das Amt des Bürgermeisters. Aber dann fiel Rudolph an der Front, und alles änderte sich. Otto hatte gar kein Interesse, den Hof zu übernehmen. Er war Apotheker, kein Bauer. Nachdem Rudolph im Herbst 1940 ums Leben kam, hat es großen Ärger wegen der Erbfolge gegeben. Otto wollte in der Apotheke bleiben und nicht zurück auf den Hof. Und seine Frau Anna schon gar nicht. Die hat sich mit Händen und Füßen gewehrt. Doch am Ende hat dein Urgroßvater John sich durchgesetzt, der Familienpatriarch. Deinem Großvater und seiner Frau blieb keine Wahl, sie mussten den Hof übernehmen.«
»Das mag ja alles sein, Carl. Aber außer dir kennt heute keiner mehr diese alten Geschichten. Und es interessiert sich auch keiner dafür. Weshalb erzählst du mir das alles? Um zu zeigen, wie schlau du bist?«
Manfred tat, als wäre ihm das alles egal. Und doch blieb er unverändert stehen, die Waffe im Anschlag, ohne sich zu rühren. Er wartete. Er wollte hören, was Carl wusste. Wie viel er herausgefunden hatte. Also redete Carl weiter. Es war ohnehin seine einzige Chance.
»Im Dezember 1940 kehrten deine Großeltern zurück auf das Anwesen. Die Apotheke war verkauft worden. Sie mussten sich mit dem Leben auf dem Hof arrangieren, ob sie nun wollten oder nicht. Und nicht nur das. John verlangte, dass sie für Nachkommen sorgten. Die Erbfolge sollte gesichert werden. Anna und Otto konnten keine Kinder bekommen, und Anna wäre es wohl auch recht gewesen, kinderlos zu bleiben. Doch auch in dieser Frage blieb ihr keine Wahl. Also haben sie Kriegswaisen aufgenommen. Das erste Kind war Alfons, dein Vater. Er kam im Herbst 1942 auf den Hof, kurz vor seinem sechsten Geburtstag. Dann folgten Hanne, Fritz, Friedhelm und Magda. Deine Großeltern haben sie alle adoptiert, und rechtlich gehörten sie nun zur Familie, auch wenn Anna ihnen keine gute Mutter war. Die Erbfolge war aber damit gesichert. Und Alfons, dein Vater, war nun der älteste Sohn auf dem Hof und somit der Hoferbe. John hat das gebilligt. Er mochte den Jungen. Außerdem hat er erkannt, dass Alfons was im Kopf hatte und ein guter Arbeiter werden würde.«
Manfred ließ Carl keine Sekunde aus den Augen. Das Handy war nur Zentimeter von seiner Hand entfernt, und doch bekam er keine Chance, danach zu greifen.
»Nun mach schon, erzähl weiter«, sagte Manfred. »Ich
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