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DuMaurier, Daphne - Plötzlich an jenem Abend

DuMaurier, Daphne - Plötzlich an jenem Abend

Titel: DuMaurier, Daphne - Plötzlich an jenem Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown
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all die Aufregung wert.
    Neuerdings machte er sich Gedanken, warum er eigentlich Jahr um Jahr, Tag um Tag hier auf seinem Stühlchen saß. Um seine Zukunft brauchte er sich schon lange keine Sorgen mehr zu machen; er war heil durch den Krieg gekommen, und die Seinen waren wohlversorgt. Er war sechzig, demnächst einundsechzig, versah eines der besten Ämter von Maltby und war mit einer treuen Frau und drei wohlgeratenen Töchtern gesegnet. Und hatte sein Haus, die »Kastanienvilla«, nicht das schönste Panorama von Maltby, den gepflegtesten Garten? Ganz oben auf der leichten Anhöhe, die Stadt und Hafen überblickte?
    Obendrein, und das war das Beste, hatte er noch sein Gartenhäuschen, sein Refugium am Ende des Gartens, wo ihn niemand störte. Dort saß er manchmal an seinem Teleskop und sah den ausfahrenden Schiffen nach… Halt, einen Moment, jetzt wußte er es wieder… Beinahe… Ja, er tauchte aus dem Erinnerungsnebel auf, jener Augenblick, als das sonderbare Gefühl zum erstenmal über ihn kam.
    Vor längerer Zeit, voriges Jahr, hatte er an einem Sommerabend dort in seinem Lieblingsversteck gesessen und mußte wohl eingeschlafen sein, denn unvermutet hörte er einen Ruf, eine Herausforderung, die aber nicht von außen kam, sondern aus seinem tiefsten Innern – es riß förmlich an seinem Herzen und fuhr ihm in den Kopf.
    Damals war er mit einem Ruck zu sich gekommen, hellwach, erwartungsvoll, als stünden ihm große Dinge bevor. Und dann hörte er den Ruf noch einmal, obgleich er schon auf den Füßen stand und mit aufgerissenen Augen um sich blickte: Es klang wie ein Befehl. Während er sich allmählich beruhigte, erkannte er, was es war. Nur das Abschiedstuten eines Schiffes, das den Hafen verließ. Weiter nichts. Ein alltäglicher Vorgang. Doch warum war es ihm diesmal bis in den Traum gedrungen. Warum hatte es ihn aufgeschreckt wie ein Ruf aus dem Jenseits?
    Er entsann sich, wie er in seinem Gartenhäuschen am Teleskop gestanden und das ins Weite dampfende Schiff mit den Augen verfolgt hatte. Die Sirene ertönte – vorschriftsmäßig – dreimal. Dreimal ein Lebewohl an Maltby. Bald war nur noch ein länglicher Fleck am Horizont auszumachen, der sich in eine ferne Rauchfahne auflöste. Fahr hin, Maltby!
    In diesem Moment war das sonderbare Gefühl über Ferguson gekommen: Er war längst tot. Alle waren tot. Maltby war eine Geisterstadt, gespenstischer als das unter jahrtausendealter Asche versunkene Pompeji. Das einzige Lebewesen war das Schiff, das sich mit wehender Fahne ins Weite rettete; es hatte sich rechtzeitig davongemacht und am Horizont aufgelöst. Mit welchem Ziel? Egal – vielleicht hatte es gar keinen Bestimmungshafen. Doch ihm, nur ihm, hatte es im letzten Moment noch eine heimliche Botschaft zugerufen, eine Aufforderung der Überlebenden an den Toten: Rette du dich auch! Nur weg von Maltby…
    Wieder schrak Ferguson ein wenig zusammen. Lang erwarteter Regen klatschte an die Büroscheiben und brachte ihn in die Gegenwart zurück. Wie kam er dazu, hier am hellichten Tag zu träumen? Unten auf der abfallenden Straße bildeten sich schon wahre Sturzbäche. Ferguson wandte sich seinen vernachlässigten Papieren zu, griff nach dem Stift und begann zu schreiben. Die Wanduhr tickte mahnend. »Wir nehmen Bezug auf Ihr Schreiben vom…« Aber vor seinem inneren Auge wehte immer noch der entschwindende Schatten, und in seinen Ohren raunte der Nachhall der Sirene, die sich von Maltby verabschiedete.

    Richard Ferguson stand vom Teetisch auf und begab sich ans Fenster. Der vormittägliche Wolkenbruch hatte einer schwankenden unsicheren Eintrübung Platz gemacht. Hin und wieder zwang sich die Sonne zu einem halbherzigen Lächeln, und am niedrig lastenden Himmel zeigten sich rasch veränderliche Flecken von Blau.
    Ferguson murmelte, er müsse Zündhölzer holen und verließ das Zimmer. In der Diele blieb er lauschend stehen, aber zum Glück kam ihm niemand nach. Da drinnen war er sowieso entbehrlich. Er zog sich eilig seine alte Tweedjacke über, nahm seine ebenso alte Mütze vom Haken, griff sich den knorrigen Stock aus dem Schirmständer und wanderte hügelabwärts.
    Der Hauptteil der Stadt lag in feuchten Dunst eingehüllt unter ihm. Aus den Schornsteinen kräuselte sich der Rauch, und vom städtischen Hauptstrand her hörte er das Geschrei von Kindern, die dort vermutlich im spärlichen Sand buddelten. Ferguson redete sich selbst ein, nur ein bißchen frische Luft schnappen zu wollen. Dazu hätte es

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