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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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unaufgeräumt«, bemerkte Ljubka schuldbewusst und kickte einen leeren Karton aus dem Weg.
    Auf dem Fensterbrett lag eine schneebedeckte Plastikrassel. Vater Konstantin nahm sie in die Hand und drehte sich zu Ljubka um.
    »Ich hatte einen kleinen Sohn.« Sie verzog das Gesicht, als wolle sie gleich weinen. »Sie haben ihn mir weggenommen und ins Heim gesteckt. Dabei hab ich ihn so geliebt! Wenn ich mal vergessen hab, ihn zu füttern, dann hat er geschrien, der Dummkopf. Wäre er still gewesen, wir wären noch zusammen.«
    Zum ersten Mal, seit sie sich kennengelernt hatten, verstummte Ljubka. Sie schien nachzudenken. Ihr wettergegerbtes Gesicht hielt in seiner ständigen Bewegung inne, und plötzlich traten menschliche Züge zutage. Spitze Nase, kleine Sommersprossen, von totem Grau in dem schwachen Licht, das durch die kaputten Fenster fiel. Und tatsächlich Fuchsaugen: gelblichbraun und kalt.
    »Gefalle ich dir?« Ljubka hob den Kopf und wackelte mit animalischer Koketterie in ihrer übergroßen orangeroten Weste hin und her. »Ach, schade! So jung, und schon Geistlicher! Sonst würden wir beide einen draufmachen! Ich fühle es, wir zwei sind verwandte Seelen! Ich schwör’s! Als würden wir uns schon hundert Jahre kennen!«
    Vater Konstantin legte die Rassel zurück und ging vorsichtig weiter in den zweiten Raum, den er an einigen rudimentären Zeichen als Küche erkannte. Sie war in einem unglaublichen Zustand.
    »Ljuba!«
    Ljubka ließ die Rassel fallen, die sie sich mit stumpfer Hartnäckigkeit ans Ohr gehalten und geschüttelt hatte, und kam hinter ihm her.
    »Ljuba, was ist das?«
    Ljubka hob scherzhaft die Brauen und riss die Augen auf.
    »Da fragt er noch! Siehst du das nicht, he? Scheiße!«
    »Und ob ich das sehe. Aber wieso hier drin? Das ist doch beschämend!«
    »Naja.« Ljubka stockte verlegen, dann strahlte sie plötzlich. »Ach, stell mir eine Flasche auf den Tisch, dann ist die Scham weg! Na los, du Engel, na los, mein Heiliger, spendier mir was zu trinken, wenn du so ein Guter bist.«
    »Ljuba, es ist gut, dass du dich schämst. Es ist schlecht, wenn man keine Scham mehr kennt.«
    »Ach, jetzt quatschst du Sombrero.« Ljubka ließ den Kopf hängen.
    »Was?«
    »Eben, davon red ich. Alles Sombrero. Was aus Büchern, was keiner versteht. Zu groß für meinen Kopf.«
    Vater Konstantin seufzte.
    »Du spendierst mir also nichts?«, fragte Ljubka nach.
    »Nein, Ljuba, was zu trinken kaufe ich dir nicht, niemals. Das merk dir bitte gleich.«
    »Na schön, Kommandeur.« Ljubka schlug die Weste um sich und ging in königlicher Haltung zur Tür. »Dann brauche ich dich nicht. Dann gehe ich zu großzügigeren Kavalieren.«
     
    Zurück in seiner Hütte, schlug Vater Konstantin sein Tagebuch auf, blies lange auf den eingefrorenen Kugelschreiber, runzelte die Stirn und dachte gequält nach. Am Ende schrieb er nur zwei Worte: Sehr beängstigend .

DRITTES KAPITEL
Erste Schritte
    Mitja erwachte ungewohnt früh von den Geräuschen des längst angebrochenen ländlichen Tages: Draußen vorm Zaun stritten zwei Frauenstimmen, in den Kletten krähte sich der Hahn die Kehle wund, dumpf klapperte ein Eimer im Brunnen.
    Mitja sprang auf, stieß gegen die niedrige Decke und erinnerte sich endlich wieder, wo er war. Das runde Dachbodenfenster zeigte noch immer die Landschaft aus der Fibel, selbst das Pferd von gestern stand weiß leuchtend und wie gemalt an derselben Stelle.
    Doch als Mitja die Brille aufgesetzt hatte, bemerkte er mit Entdeckerfreude ein neues Detail, das nicht aus dem Schulbuch stammte: Runde Tautropfen lagen auf den Kartoffelblättern und sandten kurze Regenbogensignale an seine Pupillen.
    Mitja hatte keine Eile, nach unten zu gehen, er genierte sich ein wenig vor seinen Gastgebern. Er saß da wie ein Grashüpfer, die Knie an die Ohren gepresst, und zögerte diesen seltsamen Moment hinaus, von dem er als Kind oft geträumt hatte: Nur ein Schritt, und er fände sich selbst mitten in dem Bild wieder.
     
    Im Haus war niemand, und Mitja ging leicht beunruhigt in den Garten. Die Pflanzen umringten ihn freudig nickend, doch die unerklärliche Sinnestäuschung, mit der alles begonnen hatte, wiederholte sich nicht, und Mitja, an eine rationale Welt gewöhnt, war erleichtert, wenn auch irgendwo tief drinnen, ohne es zu merken, ein wenig traurig.
    Er ging weiter, erschauerte unter den kalten Tropfen, mit denen die dünnen Bäumchen ihn bespritzten wie kleine Mädchen, und hinterm Haus entdeckte er endlich die

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