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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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kleiner Fluss.
    Wie ein Bild aus der Fibel, zu dem man sich einen Satz zum Thema Heimat ausdenken sollte.
    Mitja fiel plötzlich ein Aufsatz ein, den er in der ersten Klasse geschrieben und der seine ganze Professorensippe zutiefst gerührt hatte. Er bestand aus einem einzigen Satz: Ich liebe meine Heimat, weil darin Pferde herumlaufen.
    Die alte Stute Marussja mit der dichten Mähne und den großen weichen Lippen, auf der die Kinder im Park im Kreis ritten, war das Lebendigste, das er in seinem kargen, allseits von mehrstöckigen Betonmauern umschlossenen Stadtleben gesehen hatte.
    Als Mitja an Marussja dachte, an ihr feuchtes nussbraunes Auge, in dem sich das Himmelsrund, die Baumkronen und die Wolken spiegelten, entdeckte er sogleich ein weißes Pferd, das im Ried am anderen Flussufer graste.
    Da lief die Schale dieses Tages, der so ganz anders gewesen war als alle Tage in Mitjas bisherigem Leben, über, und süße, schwere Schläfrigkeit erfasste ihn. Er streckte sich auf dem Stroh aus und schloss die Augen.
    Er lag auf dem Rücken, lächelte, hörte den in der Abendluft zwitschernden Mauerseglern zu und fühlte sich, als schwimme er; die Wellen plätscherten, über ihm zog eine Brücke vorbei, und kleine Jungen lärmten, überm Geländer hängend: »Kuckt mal, Jungs, da schwimmt der neue Lehrer!« »Das ist kein Lehrer, das ist ein Seeungeheuer!«

ZWEITES KAPITEL
Vater Konstantin
    Vater Konstantin war erst ein halbes Jahr zuvor, im Winter, nach Mitino gekommen. Gebracht hatte ihn ebenfalls Wowa, und da Vater Konstantin der einzige Fahrgast gewesen war, hatte Wowa ihn von der Kreisstadt an in Beschlag genommen: Er hatte ihn in die Fahrerkabine umsteigen lassen und ihn die ganze Fahrt über mit religiösen Fragen traktiert.
    Zum Beispiel wollte er wissen, für welchen Heiligen man eine Fürbitte abhalten lassen musste, um ein gewisses Miststück wieder an sich zu binden. Oder ob sich Heilige nicht mit solchen Dingen befassten, ob man damit besser zu der alten Hexe nach Marjino ging, wozu er keine Lust habe: Die Alte verlange saftige Preise – ein halbes Gehalt für ein Glas getrockneten Dreck!
    Außerdem fragte Wowa, ob man das Kreuz abnehmen müsse, wenn man mit einem Mädchen – naja, Dingsdibums … Und ob es, damit man nicht in die Hölle kam, genug sei, wenn man zu Ostern in die Kirche ging, oder ob man auch noch den Weihnachtsgottesdienst durchstehen müsse.
    »Das alles nützt überhaupt nichts«, erklärte Vater Konstantin schließlich ungeduldig, womit er Wowa zutiefst verblüffte, um nicht zu sagen – enttäuschte.
    »Aber was muss man denn tun?«
    »Menschlich leben. Tag für Tag, verstehst du, nicht einmal im Jahr eine Kerze aufstellen.«
    »Apropos«, Wowa wurde lebhaft, weil das Gespräch wieder im vertrauten Gleis verlief, »ist es wahr, dass man keine gerade Zahl Kerzen aufstellen darf, weil man dann abkratzen muss?«
    »Klar musst du abkratzen. Früher oder später. Aber nicht wegen der Kerzen.«
    Wowa schwieg eine Weile, und sein Gesicht spiegelte die physische Anstrengung, die ihn das Nachdenken kostete: Die Stirn legte sich in Falten, die weißblonden Brauen runzelten sich, die Gesichtsmuskeln gerieten in Bewegung, als wollten sie den steckengebliebenen Gedanken vorantreiben.
    »Führe ich etwa kein menschliches Leben?«, rief er beleidigt. »Ich trinke nämlich nur abends, nicht schon morgens wie alle anderen. Obwohl ich manchmal gern einen Schluck nehmen würde, gegen den Katzenjammer. Wenn mir der Schädel brummt und ich schuften muss wie ein Pferd. Aber am Steuer, da trinke ich keinen Schluck, da bin ich eisern.«
    »Sag bloß, du trinkst jeden Tag, ohne Pause?«, fragte Vater Konstantin so teilnahmsvoll, als ginge es um Anfälle einer schweren Krankheit und nicht um etwas, das hier für jeden völlig normal war.
    »Aber sicher«, erwiderte Wowa erstaunt. »Was sonst?«
    »Du hast mich gefragt, was du tun sollst«, seufzte Vater Konstantin, dem von vornherein klar war, dass das, was er nun sagen musste, den anderen nicht erreichen würde.
    »Und ob«, bestätigte Wowa. »Wer möchte schon gern im Kessel schmoren?«
    »Dann versuch für den Anfang, nur jeden zweiten Tag zu trinken. Wenn du das schaffst, komm wieder zu mir, dann sag ich dir, wie es weitergeht.«
    »Klar.« Wowa grinste. »Das kann ich mir schon denken: nur freitags trinken, dann nur an Feiertagen, und schließlich soll ich mir eine Ampulle gegen das Trinken implantieren lassen. Dass alle mit dem Finger auf mich zeigen wie

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