Dummendorf - Roman
schwanken, all das hatte ihn unglaublich erschöpft. Wie gern würde er endlich etwas finden und sich ernsthaft in die Arbeit stürzen. Aber er hatte solche Angst, sich zu irren, sein Leben und all seine Kräfte an das Falsche zu verschwenden, er hatte so wenig Zutrauen zu sich selbst, war ständig damit befasst, alles eingehend zu erwägen und zu studieren und sich dabei selbst zu prüfen, dass er schon seit einem halben Jahr nicht über den toten Punkt hinwegkam.
Mitja war achtundzwanzig, aber seine hoch aufgeschossene, linkische Gestalt, an der jede Kleidung schlaff herunterhing oder sich bauschte, verriet noch deutlich den Jugendlichen. Alle seine Klassenkameraden, bis auf Waganow, der im Knast saß, hatten bereits eine Familie gegründet und sich einen Bauch zugelegt und sahen aus wie erwachsene Männer. Nur Mitja war noch immer dünn, allein und rastlos.
»He, du da!«, rief ihm der Fahrer einer startenden Gazelle zu. »Mach hinne! Wir fahren jetzt los!«
Mitja sprang in die offene Tür des anfahrenden Busses.
»Bis wo musst du?«
»Bis ans Ende!«, seufzte Mitja und empfand eine unglaubliche Erleichterung.
Doch kaum war der Bus in die nächste Straße eingebogen, überfielen Mitja erneut Zweifel. Er fuhr doch hoffentlich nicht nach Marjino, wo es nicht mal der OMON -Soldat Tjutikow ausgehalten hatte? Oder in das kauende und schmatzende Kulebjakino? Gab es dort überhaupt eine Schule? Und wenn ja, brauchten die einen Geschichtslehrer? Wurde er, Mitja, überhaupt irgendwo gebraucht?
Der Kleinbus hatte inzwischen die Kreisstadt verlassen und schuckelte eine Landstraße entlang. Mit den hungrigen Augen des Städters betrachtete Mitja die hohen Wildblumen und vergaß alles auf der Welt.
Hin und wieder tauchten mitten auf dem freien Feld Bushaltestellen auf, Mausoleen einer versunkenen Zivilisation – monumentale, sonderbare Bauten, verziert mit groben Mustern oder halb abgefallenen Mosaiken, auf denen man Gestalten erahnen konnte, die in ein Horn bliesen – Pioniere, Herolde oder Engel.
An einer solchen Haltestelle saß ein Mensch ohne Kopf. Mitja zuckte vom schmutzigen Busfenster zurück, an das er die ganze Zeit die Stirn presste, um die Landschaft besser betrachten zu können. Doch als er genauer hinsah, begriff er, dass der Mensch sich nur die bis zum Kragen zugeknöpfte Jacke über den Kopf gezogen hatte und darin schlief wie in einem Starenkasten.
Doch der unangenehme Eindruck blieb, und die Wehmut riss Mitja mit geübter Hand aus dem sonnigen Tag und schleuderte ihn in ihr feuchtes Verlies.
Die Gazelle kroch langsam und am ganzen Körper zitternd bergauf. Am Straßenrand lief eine junge Frau in einem schwarzen städtischen Mantel, der zwischen den blühenden Feldern absurd wirkte. Noch absurder waren die hohen Absätze, auf denen sie bei jedem Schritt mal nach rechts, mal nach links umknickte, sie bewegte flatternd die Arme, um nicht hinzufallen. An ihrem unsicheren Zickzackgang konnte nicht nur das unbequeme Schuhwerk schuld sein. Mitja sah – voll tiefer Scham –, dass der ganze Mantel mit Straßenschmutz besudelt war, mit Stroh, mit vertrockneten Blättern, und am Rücken klebte ihr wie zum Hohn ein Eispapierchen. Die Frau weinte, schneuzte sich in die Faust und wischte sich die Finger am Mantel ab.
Die Gazelle machte einen heftigen Schlenker zur Seite, und Mitja wurde fast in den Gang geschleudert.
»Verdammt, diese Teufel!«, brüllte der Fahrer und kurbelte am Steuer.
Auf der anderen Seite, direkt auf der Fahrbahn, schleppte sich ein Mann von undefinierbarem Äußeren dahin. Sein Gang war unsicher, immer wieder trat er auf einen Zipfel der am Boden schleifenden karierten Decke, in die ein Baby eingewickelt war. Er weinte ebenfalls.
»Pachomow nimmt seiner Schlampe wieder mal das Kind weg«, lärmten die Fahrgäste. »Ausgerechnet der! Gleich lässt er es noch fallen!«
»Anhalten!«, rief Mitja mit schwacher Stimme.
»Noch zu früh für dich!« Der Fahrer warf ihm im gesplitterten Rückspiegel einen kurzen Blick zu und gab Gas.
Die ganze restliche Fahrt über drehte und wendete Mitja diesen Satz in seinem Kopf hin und her. Zu früh, sich ungebeten in fremdes Unglück einzumischen, weil er noch nicht erwachsen genug war und alles nur schlimmer machen würde? Zu früh, sich in das hiesige Leben einzumischen, weil er dessen Eigenheiten und unterschwellige Strömungen noch nicht kannte? Wer war dieser Pachomow? Wer war diese Frau? Und was spielte sich da ab – vor aller Augen,
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