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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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die Mädchen – unsere Mädchen, das sind Kämpferinnen. Dabei war ein Wetter – Nieselregen, überall Pfützen, wie bestellt! Die Schulrätin Valentina Petrowna – Sie haben sie ja kennengelernt, oder? –, die hat uns vom Fenster aus wüst beschimpft. Wir machen euch sowieso zu, wir haben unsere Vorschriften, für zehn Schüler dürfen wir keine ganze Schule erhalten. Dabei haben wir nicht zehn, sondern elf Schüler, plus Kostja, und bald ist auch Minkin soweit. Aber wir hatten Glück: Ein deutscher Professor ist gekommen, er wollte die Dummen besuchen. Da sollten wir weg – sie haben uns eingesammelt, mitsamt den Matratzen, und im Schulbus nach Hause geschafft. Aber dafür haben sie uns in Ruhe gelassen und die Schule nicht zugemacht. Und jetzt warten wir wieder auf Besuch aus der Kreisstadt.«
    Mitja und die Direktorin liefen die Hauptstraße von Mitino entlang. Wowa hatte widerwillig seine Abendtour angetreten, und die Schüler waren auf dem Kohlfeld geblieben, um weiter Unkraut zu jäten.
    Hin und wieder begegnete ihnen jemand. Im Gegensatz zu Wowa hatte Jewdokija Erbarmen mit fremder Neugier: Sie blieb stehen und gab in allen Einzelheiten Auskunft über Mitja.
    Bei jeder Begegnung stieg er höher, denn Jewdokija malte sich, je länger sie liefen, für Mitja unermüdlich Aufgaben in einer immer entlegeneren Zukunft aus.
    »Er wird sich als Geschichtslehrer versuchen.«
    »Ich hoffe, ihn zum stellvertretenden Direktor zu machen.«
    »Wenn ich in Rente gehe, wird er Direktor.«
    Die Zukunft schien Jewdokija – weil es darin nun einen neuen Lehrer gab – immer lichter und schöner. Die Schule wurde nicht geschlossen, das Gehalt rechtzeitig gezahlt, ihr Mann hörte sogar mit dem Trinken auf. Niemand sonst hätte an dem schlaksigen Mitja, den die ihnen begegnenden Babuschkas sogleich langes Elend tauften, etwas gefunden, das eine derartige Zuversicht geweckt hätte. Doch Jewdokija lag so sehr an ihrer Hoffnung, dass es im Grunde keine Rolle spielte, auf wen sie hoffte. Das andere Ende des Dorfes erreichte Mitja bereits als potentieller Bildungsminister.
    Hier verlor sich die Straße glücklicherweise in Klettengestrüpp, und Jewdokija stellte sich auf Zehenspitzen und schaute vorsichtig über einen Gartenzaun. Dahinter wogte und loderte ein ganzes Meer prächtiger Blumen. Direkt am Haus wiegte sich roter Mohn, es sah aus, als stünde die Treppe in Flammen. Mitten in diesem Feuer stand ein alter Mann auf den Stufen, beschirmte die Augen mit der Hand und betrachtete die Welt.
    »Na, dann versuchen wir es mal«, flüsterte Jewdokija unsicher, drehte sich zu Mitja um, den sofort aller Mut verließ, und fügte hinzu: »Wir haben ein wenig Angst vor ihm. Er kann hexen.«
    »Wie?«
    »Sehen Sie den Flieder? Überall ist er längst verblüht. Und die Gladiolen da – die sind eigentlich erst im August so weit. Aber bei ihm blüht alles gleichzeitig. Das kommt nicht von ungefähr.«
    »Dann sollten wir ihn vielleicht lieber nicht belästigen?« Die botanischen Argumente überzeugten Mitja zwar nicht, aber er war trotzdem eingeschüchtert.
    »Die anderen trinken alle«, erwiderte Jewdokija wehmütig. »Und wenn sie getrunken haben, prügeln sie sich. Sie sind doch ein kultivierter Mensch, das wäre eine Zumutung für Sie.«
    »Jewdokija!«, rief der alte Mann plötzlich, und die beiden Direktoren – die jetzige und der künftige – zuckten zusammen wie Erstklässler, die etwas angestellt haben. »Ich erwarte Gäste. Seid ihr das vielleicht?«
     
    Mitja ging durch die Gartenpforte – und musste blinzeln bei der starken, beinahe mit Händen zu greifenden Woge von Düften, die ihn überschwemmte, ihm die Füße wegriss, ihn in die Luft erhob. Mitja löste sich von der Erde und schwebte über dem Weg. Vor ihm schwebte die kleine Jewdokija, blühende Zweige zerteilend. Farbspiele und Lichtreflexe der üppigen Schönheit um sie herum erfassten ihre ausgeblichene Trainingsjacke, flossen als zitternde, vielfarbige Schleppe an ihren schmalen Schultern herab; die Tulpen beiderseits des Weges verbeugten sich vor ihr mit der Schlichtheit und Würde eines uralten Geschlechts.
    Mitja atmete tief ein, als wolle er diesen Garten möglichst rasch vollständig erfassen, klassifizieren und einordnen. Doch mit jedem Atemzug wurde er tiefer hineingesogen, verhedderte sich in den Worten ebenso wie in der heißen Materie der Pflanzen, die sich an ihn schmiegten.
    Die Dorfstraße, die er eben noch entlanggegangen war, hatte einen

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