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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ging rasch weiter.
    Hinter sich hörte er es flüstern:
    »Onkel Wowa, wer ist denn das?«
    »Wer, wer, wer – der große Bär!«, verkündete Wowa altklug, holte Mitja ein und plapperte drauflos: »Als ich zur Armee eingezogen wurde, da kam ich zum ersten Mal in die Stadt. Ich bin aus dem Bus gestiegen, losgelaufen und hab jeden gegrüßt. Am Ende der Straße, da fällt mir fast die Zunge ab: so viele Leute! Und das Schlimmste – alle zucken vor mir zurück, als hätte ich die Pest, und keiner grüßt zurück.«
    Die eingeschossige Schule sah aus wie ein schlichtes Bauernhaus, sie stand mitten in einem riesigen Gemüsegarten. An der Tür hing ein rostiges Schloss, die Fenster waren mit alten Zeitungen zugeklebt. Doch in den Beeten arbeiteten die Direktorin und sämtliche Schüler der oberen Klassen.
    »Jewdokija! Lass mal kurz!«, rief Wowa und sprang über einen Haufen gejäteten Unkrauts. »Kuck mal, wen ich dir mitgebracht habe!«
    Eine kleine Frau im Trainingsanzug richtete sich auf, die Hand ins Kreuz gepresst, wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und musterte Mitja beunruhigt. Einige Mädchen, größer als sie, bauten sich wortlos neben ihr auf, Schulter an Schulter, wie umzingelte Kundschafterinnen, die entschlossen sind, bis zur letzten Patrone zu kämpfen. Drei Jungen streiften langsam die erdverkrusteten Stoffhandschuhe ab, als wollten sie den ungebetenen Gast im nächsten Moment mit bloßen Händen zerreißen. Mitja wäre am liebsten geflohen.
    »So! Da sind Sie also, ja?«, fragte die kleine Jewdokija, als wäre sie zum Tode verurteilt. Die Mädchen durchbohrten ihn mit hasserfüllten Blicken.
    »Ja, da bin ich«, bestätigte Mitja erschrocken.
    »Warum lassen Sie die Kinder nicht in Ruhe die Schule beenden?!«, jammerte sie plötzlich. »Das letzte Jahr! Und in der siebten habe ich auch noch zwei! Drei in der fünften, Kostja nicht mitgerechnet. Und bald ist Minkin soweit! Wo sollen sie denn hin? Ins Heim, obwohl sie doch noch Eltern haben?«
    Mitja zwinkerte verwirrt, er begriff nicht, warum sie ihn anschrie, diese Frau, der irgendwer – offenbar jemand, der Mitja ähnlich sah – alles wegnehmen wollte.
    Nun hatte Wowa sein geheimes Wissen genug ausgekostet und mischte sich herablassend ein:
    »Jewdokija! Beruhige dich! Was fällst du über den neuen Lehrer her? Gleich ist er noch beleidigt und fährt mit dem nächsten Bus wieder zurück. Stimmt’s?«
    Ich kann noch zurück!, freute sich Mitja und dachte fast ohne Widerwillen an sein Institut, das Geraschel und Gezischel.
    »Sie wollen uns also nicht schließen?«, seufzte die Frau und lächelte zaghaft.
    Der lebendige Schutzwall hinter ihr löste sich auf und geriet in Bewegung wie ein Birkenhain: Die Mädchen flüsterten miteinander, kicherten, warfen rasche Blicke auf den neuen Lehrer und stießen einander an. Mitja war nun erst recht verlegen und fest entschlossen, nach Hause zurückzukehren.
    Sich an diesen rettenden Gedanken klammernd, antwortete er abwesend auf alle Fragen Jewdokijas und fand erst wieder in die Wirklichkeit zurück, als Wowa und sie laut darüber stritten, wo sie ihn unterbringen sollten. Im ersten Augenblick wollte er sich einmischen, fand aber weder den Mut dazu noch die Worte, kapitulierte und hörte zu, wie fremde Menschen über sein Schicksal entschieden.
    Im Grunde seines Herzens war Mitja froh, dass er das nicht selbst tun musste. Er entspannte sich und schwamm mit dem Strom, als wäre ihm eine große Last von den hängenden Schultern gefallen, als wäre er auf einmal federleicht. Er hob den Kopf und sah sich zum ersten Mal um.
    Die Schule stand ganz am Rand des Dorfes. Die menschenleere Landstraße verschwand hinter einem Berg und tauchte erst weit entfernt zwischen blühenden Feldern wieder auf. Am Straßenrand entdeckte Mitja ein schiefes Ortsschild. Blinzelnd versuchte er zu lesen, was darauf stand. Er traute seinen Augen nicht, holte die Brille, die zu tragen er sich genierte, aus seiner Brusttasche und schaute erneut. Der Ort, in den es ihn zufällig verschlagen hatte, hieß Mitino.
    Es ist also alles richtig!, dachte Mitja begeistert und folgte leichten Herzens der kleinen Direktorin.
    »Jedes Jahr wollen sie uns schließen«, sagte sie, wobei sie dem neuen Bekannten schüchtern ins Gesicht sah: ob er auch nicht gekränkt war, weil sie ihn so unfreundlich empfangen hatte. »Letzten Sommer sind wir sogar in einen Hungerstreik getreten. Wir haben auf Matratzen vor der Kreisschulleitung kampiert, auch

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