Dungirri 01 - Schwarze Dornen
eine tiefe Zuneigung für sie, die ihr gewohntes, professionelles Empfinden aus dem Gleichgewicht brachte. Sollte sich herausstellen, dass Delphi tatsächlich die Täterin war, würde sie sich niemals vergeben können, das im vergangenen Jahr nicht erkannt zu haben.
»Stehen Sie ihr nahe?« Er betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen.
»Niemand steht Delphi nahe.« Und das war die unverblümte Wahrheit. Für das Vorspielen einer glücklichen Familie war die Tante nie zu haben gewesen, und sie hatten nur sporadisch Kontakt. »Aber ich bin ihre einzige Verwandte, und wir kommen einigermaßen miteinander aus.«
»Gut. Dann fahren wir gemeinsam zu ihr. Ich würde gern wissen, wen sie gestern noch auf der Landstraße gesehen hat.«
»Es ist gegen die Vorschriften, wenn eine Angehörige …«
Mit einer Handbewegung schnitt er ihr das Wort ab. »Das wird keine offizielle Vernehmung. Wenn Ihre Tante tatsächlich eine solche Abneigung gegen Männer und Autoritätspersonen hegt, dann ist nicht zu erwarten, dass sie sich mir oder Fraser gegenüber sonderlich zugänglich zeigt, richtig?«
»Schätzen Sie sich glücklich, wenn Delphi überhaupt
ein Wort mit Ihnen spricht«, beschied Kris Alec. »Selbst für mich hat sie meistens nur ein Grunzen übrig.«
»Aber Sie glauben nicht, dass sie etwas mit der Sache zu tun haben könnte?«
Das war eine offene Frage an Kris, er wollte wirklich ihre Meinung hören, wie er den ganzen Tag über schon mehrfach die Ansichten anderer eingeholt und angehört hatte. Noch ein Punkt für ihn, vermerkte Isabelle. Wenn sie denn Punkte zählen würde. Was sie ganz bestimmt nicht tat.
»Ich bezweifle es«, antwortete Kris. »Delphi hat einen ziemlich strikten Moralkodex, dem in ihren Augen kaum jemand gerecht wird. Man kann sich blind darauf verlassen, dass sie in Notfällen hilft, aber sonst … Na ja, sie ist eine unabhängige Seele und geht ihren eigenen Weg.«
Und das, dachte Isabelle, war überaus taktvoll ausgedrückt.
»Bevor wir mit Delphi reden, muss ich unbedingt zu Tanyas Eltern.« Wieder fiel Alecs Blick auf Isabelle. »Wie gut kennen Sie sie, Isabelle? Sollten Sie dabei sein?«
Einen Moment lang schloss sie die Augen, und der Kopfschmerz, der die ganze Zeit schon im Hintergrund gelauert hatte, verstärkte den Druck auf ihren Schädel. Sie war Alec dankbar, dass er ihr die Entscheidung überließ, ob sie mitkam, in Wahrheit aber hatte sie gar keine Wahl. Beth und Ryan Wilson mussten vor Angst und Sorge um ihre Tochter außer sich sein. Je menschlicher und persönlicher die Polizei sich ihnen zeigte, desto besser für sie.
Sie würde sich für die Begegnung rüsten müssen. Die Erinnerung an den grauenvollen, herzzerreißenden Schmerz in Sara Sutherlands Augen vor einem Jahr hatte sich fest in ihr Herz eingebrannt, und sie hatte im Stillen
darum gebetet, nie wieder irgendjemandem mit derselben Nachricht gegenübertreten zu müssen.
»Ich komme mit«, erwiderte sie.
»Gut. Berichten Sie mir auf der Fahrt von den beiden.«
»Es ist nicht weit - wir können laufen.«
»Nicht, solange wir nicht wissen, wer auf Sie geschossen hat.«
Und dies, das konnte sie seinen wie in Stein gemeißelten Zügen entnehmen, war keine Entscheidung, über die er diskutieren würde.
Sie traten wieder in die Hitze hinaus, zu dritt, denn Finn schob sich zwischen sie und Alec. Er tat das aus eigenem Antrieb, und sie war erleichtert darüber. Das führte zumindest dazu, dass Alec mit seiner verwirrenden Präsenz ihr nicht zu nahe kam. Sobald sie im Auto saßen, würden seine breiten Schultern natürlich das Wenige an Raum beanspruchen, und sie würde gegen die aufkeimende Panik ankämpfen müssen, die sie stets überfiel, sobald jemand ihr nahe kam. Sie hatte im Lauf des Tages bereits erkennen müssen, dass die Monate ihres Rückzugs nicht genügt hatten, sie von dieser Erblast des vergangenen Jahres zu befreien.
Einatmen, Luft anhalten, ausatmen …
Sie zog die hintere Tür für Finn auf, und Schmerz schoss wieder durch ihre Schulter. Statt langsam und bedächtig einzuatmen, sog sie scharf die Luft ein. Und zu allem Überfluss hatte Alec ihr Zusammenfahren bemerkt. Sie wühlte in ihren Taschen nach den Schlüsseln und warf sie ihm zu, bevor er ein »Ich hab’s ja gleich gesagt« vom Stapel lassen konnte. Aber er ging einfach stumm auf die Fahrerseite und stellte den Sitz ein, während sie neben ihm Platz nahm.
»Beth stammt von hier«, begann sie ihren Bericht noch bevor er vom Parkplatz
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