Dungirri 01 - Schwarze Dornen
haben und sie nicht dazu neigt, einfach davonzulaufen, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass ich von einer mutmaßlichen Entführung ausgehe.«
»Glauben Sie, dass es derselbe ist, der Jessie ermordet hat?« Es war ein heiseres Flüstern, und Alec sah, wie sein Arm sich enger um die jüngere Tochter schloss, so als wolle er sie niemals wieder loslassen.
»Das ist eine denkbare Möglichkeit, ja.« Die vorsichtigen Worte, zu denen er sich gezwungen sah, passten so gar nicht zur Lage. Wieder schnürte Alecs Kehle sich zusammen, und er wünschte, er könne etwas sagen, was dieser Familie ihr altes Leben zurückbrächte, aber er wusste
genau, das konnte nur geschehen, indem er die Tochter fand.
Er räusperte sich, und das Geräusch hallte laut durch das stille Zimmer. »Mr. Wilson - Ryan -, gibt es jemanden - ganz egal wen -, dem Sie zutrauen würden, dass er Ihnen ein solches Leid zufügt?«
Müde schüttelte Ryan den Kopf. »Das hat Kris uns auch schon gefragt, aber mir fällt wirklich niemand ein.«
»Sie arbeiten bei der Stadtverwaltung?«
»Ja. Vor meinem Unfall war ich bei der Straßeninstandsetzung. Inzwischen bin ich dreimal in der Woche im Verwaltungsbüro und kümmere mich um die Gemeindesteuern und so etwas. Man hat sich anständig verhalten und mir eine Stelle gegeben, die ich bewältigen kann.«
Was schließlich auch ihre Pflicht ist, überlegte Alec mit leisem Zorn gegenüber der Verwaltung, schließlich dürften drei Tage in der Woche kaum ausreichen, um eine junge Familie zu ernähren. Da hätte sich bestimmt auch eine Vollzeitstelle finden lassen.
Ryan drehte sich weg und wischte mit dem Handballen über seine Augen. »Das ist so ziemlich alles, wozu ich inzwischen noch zu gebrauchen bin«, murmelte er und biss sich auf die Lippe. »Früher war ich beim SES und Hauptmann der freiwilligen Feuerwehr. Was ist das denn für ein Mann, der nicht einmal seine eigene Tochter suchen kann?«
Wie leicht hätte das auch mir passieren können , überlegte Alec und dachte an all seine Rugbypartien, an all die Extremsportarten, an denen er sich im Lauf der Jahre versucht hatte, all die handgreiflichen Auseinandersetzungen mit Kriminellen. Nur einmal ausrutschen, einmal den Fuß an die falsche Stelle setzen und schon wäre
auch er für den Rest seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt. Verzweifelt suchte er nach einem Satz, der nicht hohl klingen würde, brachte aber nur »Es ist nicht Ihre Schuld« heraus.
Ryan ächzte verbittert und ungläubig. »Ach nein? Wissen Sie, Beth hat die ganze letzte Nacht mit dem Rosenkranz hier gesessen, und mir ging andauernd nur durch den Kopf, vielleicht ist das ja meine Strafe. Ich war in meiner Jugend nicht gerade ein Heiliger. Ich weiß gar nicht, wieso eine Frau wie Beth überhaupt einen zweiten Blick an mich verschwendet hat - ich habe sie nicht verdient. Und jetzt denke ich ständig, wenn ich letztes Jahr mehr unternommen hätte, dann hätte ich das Furchtbare vielleicht aufhalten können, und das ist nun Gottes Vergeltung.«
»Was meinen Sie mit letztem Jahr?«, fragte Alec scharf.
Ryans Stöhnen schien aus seinem tiefsten Innersten zu kommen. »An dem Abend, als Jess gefunden wurde, war ich im Pub. Alle waren natürlich außer sich. Wir wussten, dass die Polizei Dan Chalmers verhört hatte, und ein paar von den Jungs meinten, man sollte zu ihm rausfahren und ihm eine Abreibung verpassen. Ich hätte nicht gedacht, dass irgendwas dahintersteckt - nur das übliche betrunkene Sprücheklopfen. Ich musste dann zurück an die Arbeit, aber kurz darauf sah ich die Autos wegfahren, alle zur selben Zeit. Je länger ich drüber nachdachte, desto mehr Sorgen machte ich mir, also rief ich die Polizei an. Wenn ich versuchte hätte, ihnen das Ganze auszureden, oder die Polizei früher verständigt hätte …« Seine Stimme erstarb.
Alec legte diese Informationen zur weiteren Bearbeitung in seinem Gedächtnis ab.
»Sie taten mehr als andere, Ryan. Sie dürfen sich nicht für deren Entscheidungen verantwortlich machen.«
»Darf ich nicht?« Er schwieg einen Moment, dann fragte er unvermittelt: »Sind Sie Vater, Alec?«
»Nein, nur Onkel.«
»Also, ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können, aber wenn der Dreckskerl, der Tanya entführt hat, jetzt vor mir stünde - ich bin mir ziemlich sicher, dass ich genau dasselbe tun würde, wie die damals, selbst in diesem verdammten Rollstuhl.«
Was sollte Alec darauf sagen, wenn er ehrlich war? Würde eins von Jills Kindern vermisst und
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