Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
Katrin.
Jan lächelte knapp. »Einfach ausgedrückt: Es zerlegt all diese großen Klötzchen da in viele kleine Klötzchen und versucht hochzurechnen, wie das Bild in einer besseren Auflösung aussehen könnte.«
»Und das funktioniert?«
»Jedenfalls behauptet das der Typ, der es mir angedreht hat.« Er grinste. »Keine Angst. Ich habe es ein paarmal ausprobiert, und die Ergebnisse waren wirklich erstaunlich. Außerdem müssen wir es ja niemandem zeigen, wenn es nicht funktioniert.«
Katrin wirkte nicht überzeugt, aber das lag möglicherweise mehr am Computer selbst als an dem, was Jan damit tat. Jan wußte, daß sie Computern prinzipiell mißtraute. Trotzdem sagte sie: »Dann fang an.«
»Das habe ich schon«, antwortete Jan. »Aber es wird eine Weile dauern. Er muß unvorstellbar viele Berechnungen anstellen.« Jan warf einen Blick auf den dunkelblauen Balken in der unteren linken Ecke des Monitors, der den Fortschritt der Berechnungen anzeigte. Er bewegte sich, aber sehr, wirklich sehr langsam. Wahrscheinlich würde es eine Stunde dauern,bis der Computer das Bild in einzelne Pixel zerlegt und neu zusammengesetzt hatte, wenn nicht länger.
»Eine Stunde«, sagte er. »Mindestens.«
Katrin seufzte. »Nach ja – es ist ja nicht so, als hätten wir in dieser Zeit nichts zu tun.«
Jan sah auf die Uhr, schaltete den Monitor aus und erhob sich. Er war müde und hatte zu ziemlich allem Lust, nur nicht mehr dazu, jetzt noch eine weitere Stunde aufzuräumen. Aber Katrin hatte natürlich recht: Die Arbeit erledigte sich nicht von selbst.
Sie verließen das Zimmer, und Katrin schlurfte mit einem ergebenen Seufzer und hängenden Schultern in die Küche, um sich dem Chaos zu stellen, das der Eindringling dort hinterlassen hatte, während Jan sich niedergeschlagen im Wohnzimmer umsah. Sie hatten aufgeräumt, so gut es eben ging, und nun lag der nächste – unangenehmere – Schritt vor ihm: Er mußte das, was übriggeblieben war, in drei unterschiedliche Kategorien aufteilen: Kaputt, ganz kaputt und völlig kaputt.
Sein Blick fiel auf die Kratzer in der Wand, die vorhin Kriegers Interesse geweckt hatten. Es waren viele tiefe, bis auf das Mauerwerk hinabreichende Schrammen, als hätte jemand Tapete und Putz mit gewaltiger Kraft und einem vierzinkigen, messerscharfen Werkzeug weggefetzt.
Oder mit Krallen.
Jan versuchte den Gedanken als lächerlich abzutun, aber er konnte nicht verhindern, daß ihm ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Er dachte an Gestalten, die in den Schatten lebten und nur im Spiegel sichtbar waren, an Gesichter, die auf eine nicht in Worte zu fassende Weise unmenschlich wirkten, und begriff, daß er auf dem besten Wege war, sich selbst in den Wahnsinn zu treiben – und damit genau das zu tun, was Vera und ihre sauberen Komplizen von ihm erwarteten.
Es würde eine normale Erklärung geben. Vera war raffiniert,das stand außer Frage, aber es würde eine ganz normale, rationale Erklärung geben.
Es mußte sie geben.
Das Problem war nur: Ganz tief in sich drin spürte Jan, daß es nicht so war.
Kurz nach Mitternacht gaben sie erschöpft auf. Katrin verschwand still im Bad und wenige Augenblicke später ebenso wortlos im Schlafzimmer, und Jan ging noch einmal an den PC, um nachzusehen, was das Programm mit dem Bild des Jungen angestellt hatte.
Das Ergebnis überraschte ihn, denn es übertraf seine Erwartungen bei weitem. Die Farben stimmten nicht ganz, und bei zwei, drei Details der historischen Kirchenfassade hatte er kräftig danebengehauen, das Gesicht des Jungen dafür aber um so genauer getroffen, inklusive seiner sonderbaren Augen, die selbst auf dem Foto etwas Unheimliches, Zwingendes zu haben schienen.
Durch das Ergebnis ermutigt, ließ Jan auch die anderen Bilder, die er mit der Digitalkamera gemacht hatte, in rascher Folge auf dem Monitor Revue passieren. Sechs davon zeigten nichts anderes als die leere Wohnung, während das siebte offensichtlich entstanden war, als der Spiegel zerbrach; vermutlich hatte er auf den Auslöser gedrückt, ohne es selbst zu merken. Er konnte sein eigenes, verzerrtes Gesicht erkennen, den Spiegel im Augenblick des Zerspringens … und etwas, das sich in den auseinanderfallenden Scherben spiegelte.
Das Gesicht des Angreifers.
Jan spürte für einen Moment so etwas wie Triumph in sich hochsteigen, unterdrückte das Gefühl aber sofort wieder. Selbst mit einer guten Kamera wäre es purer Zufall, in den Spiegelscherben ein klares Bild des
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