Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Titel: Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
Paranoikerin par excellence. Wie Dieter es einmal so treffend ausgedrückt hatte: Sie war nur dann wirklich glücklich, wenn sie Unglück prophezeien konnte. Und da sie es oft genug tat, traf sie logischerweise manchmal ins Schwarze. Er konnte sich ungefähr vorstellen, was er sich in den nächsten Wochen würde anhören müssen. Wenn nicht Monaten …
    » Apropos siebtes Gesicht«, sagte er. »Du solltest mal ein anderes aufsetzen. Wie lange hast du heute nacht geschlafen? Zehn Minuten oder zwanzig?«
    Katrin starrte ihn an. »Charmant wie immer, wie?«
    »Ich sagte doch: Bin wieder der Alte, mir fehlt nichts.«
    Katrin seufzte, stand kopfschüttelnd auf und ging mit hängenden Schultern zu dem kleinen Waschbecken, das in einem Winkel neben der Tür angebracht war. Hinter Jan raschelte etwas. Ein seidiger Laut, so als rieben sich Schatten aneinander. Jans Herz begann rascher zu schlagen, und er spürte, wie seine Hand – absurderweise nur die linke – leicht zu zittern begann. Er schloß sie um das kalte Metall des Bettgestells. Sofort durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, als sich die Injektionsnadel tiefer in sein Fleisch grub, er versuchte das Geräusch einfachwegzuleugnen. Es ging nicht. Das seidige Schleifen und Rascheln wurde sogar lauter. Er konnte spüren , daß jemand hinter ihm stand. Seine Phantasie schlug keine Purzelbäume mehr, sie fuhr auf einer Achterbahn, die von keinem TÜV der Welt abgenommen würde.
    Nur um sich auf andere Gedanken zu bringen, richtete er sich ein bißchen weiter im Bett auf und sah Katrin an. Sie stand nach vorne gebeugt und mit hängenden Schultern über das weiße Porzellanbecken gebeugt da, in einer Haltung, die ihre Müdigkeit deutlicher machte als alles andere. Das blasse Gesicht, das sich in dem Spiegel darüber brach, paßte zu dieser Erschöpfung.
    »Weißt du was?« seufzte sie. »Du hast recht. Ich sehe scheiße aus.«
    Sie hob die linke Hand und tastete mit den Fingerspitzen über die dunklen Ringe, die sich unter ihren Augen gebildet hatten, lächelte ihm aber gleichzeitig über den Spiegel hinweg zu.
    Jan lächelte zurück.
    Ungefähr eine Sekunde lang.
    Jan konnte das seitenverkehrte Abbild ihres Gesichts deutlich in dem kleinen Spiegel erkennen, dahinter, kleiner und durch den veränderten Winkel etwas verzerrt, das seines eigenen, kaum weniger blassen Gesichts, und dahinter wiederum den merkwürdigen Schatten.
    Diesmal konnte er ihn nicht nur aus den Augenwinkeln heraus wahrnehmen, sondern frontal. Er stand hoch aufgerichtet und völlig reglos da, sehr groß, sehr schlank, sehr dunkel. Wie gestern abend im Krankenwagen war er halb transparent, so daß man die Wand dahinter noch teilweise erkennen konnte, und eigentlich war es auch gar kein richtiger Schatten, sondern etwas wie ein nicht ganz scharf gezeichneter Umriß, der aus irgendeiner nebligen Substanz zu bestehen schien.
    »Du könntest mir ruhig widersprechen, auch wenn es gelogen ist«, maulte Katrin. »Immerhin …«
    Sie runzelte die Stirn, musterte sein Konterfei noch einen kurzen Moment lang im Spiegel und drehte sich dann langsam zu ihm herum.
    »Jan?«
    Er wollte ja antworten, aber er konnte es nicht. Sein Herz schlug langsam, sehr hart und sehr schwer. Eine der Apparaturen an der Wand hinter ihm begann ärgerlich zu piepsen. Jans Blick hing wie gebannt an dem Schatten. Er sollte verschwinden. Eine anständige Halluzination löste sich auf, wenn man sie als das entlarvte, was sie war.
    Diese nicht.
    Sie wurde deutlicher.
    Er konnte die Wand dahinter jetzt kaum noch erkennen. Die Schwärze nahm zu, und der Umriß war jetzt scharf gezeichnet, wie mit einer jener alten Tuschefedern, die so spitz waren, daß sie das Papier ritzten. Was bisher ein flacher Schatten gewesen war, versuchte Tiefe zu entwickeln. Dieser Umgestaltung würde vielleicht der Übergang in die Wirklichkeit folgen.
    »Jan?« fragte Katrin noch einmal. »Jan, um Himmels willen, was hast du? Du … du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!«
    Das hatte er auch. Er sah es noch. Es wurde deutlicher und versuchte anscheinend mit aller Macht, aus dem Reich der Schatten herauszutreten und einen Körper zu bekommen, aber irgend etwas verwehrte ihm diesen letzten, entscheidenden Schritt. Sollte es ihn tun, würde er, Jan, den Verstand verlieren, auf der Stelle und endgültig, das wußte er.
    »Jan!« Katrin schrie jetzt fast, sie stieß sich plötzlich mit beiden Händen vom Waschbecken ab und stürzte auf ihn zu.
    Der Schatten

Weitere Kostenlose Bücher