Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
wurde er diese Erinnerungsfetzen einfach nicht los?
»Da ist wirklich nichts«, sagte er lahm. Er versuchte, wenigstens eine Spur von Überzeugung in seine Stimme zu legen, aber er merkte selbst, wie kläglich dieser Versuch scheiterte. Trotzdem fuhr er fort: »Ich kann dir nicht sagen, was los war. Bis gestern abend dachte ich noch, ich wäre völlig gesund …«
Katrin blieb vollkommen ernst. Wahrscheinlich hatte sie seine Worte nicht einmal zur Kenntnis genommen. Sie setzte sich, sah ihn einen Moment verstört an und stand dann wieder auf, nur um sich im nächsten Augenblick wieder auf den unbequemen Stuhl sinken zu lassen.
»Du … du würdest es mir sagen, wenn da etwas wäre, oder?« fragte sie stockend. Ihr Blick irrte im Zimmer umher, nur Jans Gesicht mied er. »Ich … ich meine, du … du würdest nicht versuchen, mir aus falscher Rücksichtnahme zu verschweigen, wenn du … wenn du krank wärst oder so etwas. Du würdest es mir doch sagen?«
Wie kommst du denn auf die Idee , dachte Jan. Laut und in so ehrlichem Ton, wie er nur konnte, sagte er: »Selbstverständlich. Ich würde dir niemals etwas so Wichtiges verschweigen.«
Lügner , wisperte eine Stimme in seinen Gedanken. Dann, eine Sekunde später, wurde ihm klar, daß die Stimme gar nicht in , sondern hinter ihm gewesen war. Der unsichtbare Schatten sprach mit ihm. Das war grotesk. Absolut lächerlich!
Dann geschah etwas wirklich Beunruhigendes: Katrin legte den Kopf schräg, runzelte die Stirn und blickte für einen Moment gebannt auf einen Punkt hinter ihm, und ihr Gesichtsausdruck war ganz der eines Menschen, der irgend etwas wahrgenommen zu haben glaubte, sich aber nicht ganz sicher war. Vielleicht so etwas wie einen Schatten aus den Augenwinkeln heraus, der immer dann verschwand, wenn man versuchte, ihn mit Blicken zu fixieren?
Um nicht den Verstand zu verlieren oder in ein plötzliches hysterisches Gelächter auszubrechen, drehte Jan nun doch den Kopf in das Kissen und starrte die Wand hinter sich an. Sie war das, was sie sein sollte: Eine glatte, in sanftem Pastellton gestrichene Wand, in die eine Anzahl verchromter Anschlüsse eingelassen war. Nicht mehr und nicht weniger. Kein Schatten.
Als er sich wieder zu Katrin herumdrehte, war der verwirrte Ausdruck gänzlich aus ihren Augen verschwunden, so daß Jan vollkommen sicher war, daß jede Erinnerung getilgt worden war. In einem Ton, als hätte es keine Unterbrechung gegeben, fuhr sie fort: »Dann ist es gut. Weißt du … ich … ich würde es nicht ertragen, wenn du mir etwas so Wichtiges verschweigen würdest.«
Wäre es dir lieber, ein paar Jahre lang mit der Gewißheit zu leben, daß ich es nicht mehr lange mache? dachte Jan zynisch. Bestimmt nicht. Niemand soll erleben, was meine Mutter und ich durchgemacht haben. Dann erschrak er. Er war nicht sicher, ob er diese Antwort wirklich nur gedacht oder womöglich ausgesprochen hatte. Die Erleichterung in Katrins Blick machte ihm jedoch rasch klar, daß er nicht laut gedacht hatte.
»Du hattest wirklich Glück, weißt du?« fuhr Katrin fort. »Ich habe vergangene Nacht noch lange mit Dr. Mertens gesprochen. Fünf Minuten später, und es wäre vorbei gewesen.«
»Das hat nichts mit Glück zu tun«, sagte Jan. Er war fast erleichtert. Auf einer tieferen Bewußtseinsebene hatte er schon die ganze Zeit darüber nachgedacht, wie er das Gespräch auf ein weniger verfängliches Thema lenken konnte. Nun gab ihm Katrin selbst den Vorwand, den er gesucht hatte. »Bedank dich bei deinem Bruder. Wenn er nicht gekommen wäre … apropos : Wieso ist er überhaupt gekommen?«
»Du bist lange weggeblieben«, antwortete Katrin.
»Lange? Nicht einmal fünf Minuten!«
Katrin schien einen Moment lang angestrengt darübernachdenken zu müssen, ob diese Behauptung auch wirklich der Wahrheit entsprach, dann zuckte sie mit den Schultern und fuhr in fast unwirschem Ton fort: »Du hast den ganzen Tag über schon nicht gut ausgesehen. Jedenfalls haben wir uns Sorgen gemacht. Ich … ich hatte einfach das Gefühl, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist. Und da habe ich Dieter gebeten, dir nachzugehen und nach dem Rechten zu sehen.« Etwas wie Trotz glomm in ihren Augen auf, erlosch aber sofort wieder. »Ich weiß, daß du nicht viel auf meine Intuition gibst, aber diesmal hat sie dir das Leben gerettet.«
Jan hätte am liebsten aufgestöhnt, und er war dicht daran, Nicht das schon wieder! zu stöhnen. Er hatte Katrin sehr gern, aber manchmal war sie eine
Weitere Kostenlose Bücher