Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
Sie machte eine ärgerliche Geste. »Und jetzt wäre es ganz nett, wenn du mir endlich sagen würdest, was, zum Teufel, eigentlich mit dir los ist.«
»Mit mir?« fragte Jan verdutzt. Sie war es doch, die sich komisch benahm. Noch vor einem Tag hätte Katrin irgendein fremdes weibliches Wesen allerhöchstens unter dem gleichen Dach mit ihm übernachten lassen, wenn sie ihm vorher das passende Äquivalent eines Keuschheitsgürtels angelegt und den Schlüssel weggeworfen hätte.
»Mit dir!« bestätigte sie. »Und jetzt behaupte bitte nicht wieder, daß ich mir nur etwas einbilde oder Gespenster sehe. Zuerst bekommst du aus heiterem Himmel einen Herzanfall. Dann flippst du völlig aus und türmst aus dem Krankenhaus. Und jetzt höre ich, daß du um ein Haar von der Straßenbahn überfahren worden wärst. Hältst du das etwa für normal? Was hat Dr. Petri gesagt?«
Wenn er sie jetzt fragte, welche dieser beiden Fragen er nun zuerst beantworten sollte, würde sie vermutlich ausflippen. Vielleicht die bequemste Methode, dieses allmählich unangenehm werdende Gespräch zu beenden.
»Mir fehlt nichts«, sagte er. »Ich bin nervös, das ist alles.«
»So nervös, daß du mitten auf den Schienen stehenbleibst?«
Nein. Das hatte er getan, weil ihn irgend etwas daran gehindert hatte, weiterzugehen. Selbst bei der bloßen Erinnerung an den Moment lief ihm schon wieder ein eisiger Schauer über den Rücken. Es war lächerlich, aber er wußte genau, daß er jetzt nicht mehr leben würde, wäre er weitergegangen. Gestern abend im Kino hatte er haargenau dasselbe Gefühl gehabt – dieselbe Ahnung –, und er wäre um ein Haar gestorben, weil er es ignoriert hatte.
»Nein, verdammt, mit mir ist nicht alles in Ordnung«, sagte er, nun schon eine Spur schärfer; und mehr als nur eine Spur lauter: »Ich hatte so eine Art Herzanfall. Ich habe im Koma gelegen, wenigstens für ein paar Minuten. Ich hatte eine komische Halluzination, und ich habe zwei gebrochene Rippen, die bei jedem Atemzug weh tun. Du gestattest also, daß ich ein bißchen nervös bin.«
»Ich gestatte nicht, daß du dich umbringst«, antwortete Katrin. »Verdammt, ich mache mir Sorgen um dich, ist das so schwer zu verstehen?«
»Nein«, antwortete Jan. »Aber du hast eine ziemlich komische Art, das zu zeigen.«
Katrins linke Augenbraue rutschte so weit an ihrer Stirn empor, daß sie fast unter ihrem Pony verschwand. Ihre Augen blitzten kampflustig. Dann erlosch ihr Zorn so plötzlich, wie er gekommen war. Für eine oder zwei Sekunden sah sie vollkommen verwirrt aus; so als verstünde sie nicht, was sie eigentlich hier tat, und warum. Dann stieß sie sich mit einem Ruck von der Glasvitrine ab, stanzte ihre Zigarette in den Aschenbecher und kam mit schnellen Schritten näher. Jan begriff erst, was sie tat, als sie sich mit gespreizten Beinen auf seinen Schoß setzte und die Hände um seinen Nacken schlang. Er kam nicht einmal dazu, eine überraschte Frage zu stellen. Katrin küßte ihn solange und stürmisch, daß er sie schließlich fast gewaltsam von sich stoßen mußte, um überhaupt noch Luft zu bekommen.
»Findest du diese Art, meine Sorge auszudrücken, besser?« fragte sie.
»Im Prinzip schon.« Jan hustete. Seine angebrochenen Rippen protestierten wütend gegen die grobe Behandlung, und er bekam kaum Luft.
»Dann gibt es keinen Grund, damit aufzuhören, oder?« Katrins Hände fummelten ungeschickt an seinen Hemdknöpfen herum. Er hielt sie fest, gab sich allerdings keine besondere Mühe dabei. Sex war so ungefähr das letzte, woran er noch vor einer Minute gedacht hatte, aber Katrins bloße körperliche Nähe und ihre eindeutige Absicht blieb nie ohne Wirkung. Er wunderte sich allerdings ein bißchen. Katrin war alles andere als prüde und sexuell ziemlich aktiv – aber der Impuls ging so gut wie nie von ihr aus. Es hatte eine geraume Weile gedauert, bis er begriffen hatte, daß Katrin es als eine Art Spiel betrachtete, in dem sie erobert werden wollte. Heute war es anders. Zum zweiten- oder drittenmal in den Jahren, die sie nun zusammen waren, war sie es, die zum Angriff überging. Normalerweise hätte sich Jan darüber gefreut. Heute erschreckte es ihn.
»Nimm Rücksicht auf mich«, bat er spöttisch. »Ich bin ein alter, kranker Mann mit einem schwachen Herzen.«
»Von deinem Herz will ich auch gar nichts«, kicherte Katrin. Sie hatte sein Hemd vollends aufgeknöpft und streifte es nun mit einer energischen Bewegung von seinen Schultern.
Jan
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