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Dunkel ueber Longmont

Dunkel ueber Longmont

Titel: Dunkel ueber Longmont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Farland
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während der er ernsthaft gefährdet war. Die Annektoren nannten es »Schock der Übereignung«. Wer seine Geisteskraft abtrat, vergaß manchmal das Atmen, oder sein Herz vergaß, wie es zu schlagen hatte. Aber wenn er diesen ersten Tag überlebte, gewann er vielleicht einen kleinen Teil seiner Geisteskraft zurück. Irgendwie würde sein Körper einen winzigen Bruchteil davon für sich beanspruchen, genug, daß es zum Überleben reichte. Im Augenblick befand sich ihr Vater im Zustand allergrößter Schwäche und Hilflosigkeit, später an diesem Tag jedoch würde es vielleicht ein »Erwachen« geben, einen Augenblick, in dem die Gabe zwischen Lord und Untertan sich festigte, und er einen kleinen Teil seines Verstandes zurückgewann.
    Erfreulicherweise waren ihrem Vater die schlimmsten Auswirkungen des »Schocks der Übereignung« erspart geblieben. Jetzt, da zwölf Stunden vorüber waren, konnte sie hoffen. Wenn er die Gabe nicht von ganzem Herzen abgetreten hatte, wenn das Zwingeisen nicht völlig perfekt war, wenn der Annektor seine Zaubersprüche nicht exakt gesprochen hatte – dann erinnerte er sich vielleicht sogar an ihren Namen.
    Also sang Iome ihrem Vater leise etwas vor, während sie ihn säuberte und danach anzog. Er verriet zwar durch nichts, ob er sie wiedererkannte, aber ihr Gesang brachte ihn zum Lächeln.
    Selbst wenn er sich niemals erinnert, wer ich bin, sagte sich Iome, lohnt sich das Lied. Mit der Zeit findet er vielleicht Gefallen an meinem Gesang.
    Bevor sie ihn fertig anzog, legte sie ihm unter seinem Hemd eine Windel aus Stoff an.
    Der Innenhof des Bergfrieds der Übereigner war voller hinfälliger Männer und Frauen, Menschen, die am Abend zuvor Gaben abgetreten hatten. Der Zustrom hatte die Verwalter überfordert. Als Iome und Chemoise mit ihren Vätern fertig waren, kümmerten sie sich um andere Soldaten, die der Familie Sylvarresta seit ihrer Kindheit treu gedient hatten.
    Die Köche machten das Frühstück fertig, und Iome verteilte große Teller mit Brombeergebäck unter den Übereignern. Sie kniete nieder, um eine junge Frau zu wecken, die unter einer grünen Decke in der Sonne geschlafen hatte, eine Soldatin namens Cleas, die sie auf vielen Reisen in die Berge begleitet hatte.
    Frauen dienten selten als Wachen. Noch seltener dienten sie als Kriegerinnen an der Front. Cleas jedoch hatte in ihrem Leben beides getan. Sie besaß Gaben der Muskelkraft von acht Männern und hatte zu den besten Schwertmeistern in Sylvarrestas Diensten gehört. Raj Ahten hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, ihr die Stärke zu rauben. Jetzt atmete Cleas nicht mehr. Irgendwann während der Nacht war sie zu schwach geworden, um Luft zu holen.
    Iome war bei diesem Anblick weh ums Herz. Sie wußte nicht, ob sie wütend oder dankbar sein sollte. Durch Cleas’
    Tod waren fünfzehn Menschen, die ihr Gaben abgetreten hatten, plötzlich wieder vollständig geworden, was dem übervollen Bergfried der Übereigner etwas von seiner Enge nahm. Aber Iome hatte einen geliebten Menschen verloren.
    Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Sie kniete weinend über Cleas und sah sich um. Ihre Days stand da und beobachtete sie. Iome erwartete, daß die Frau so kühl und leidenschaftslos wäre wie immer, das kleine, spitze Gesicht schmallippig und leer. Statt dessen entdeckte sie in ihrem Gesicht Anzeichen des Mitleids.
    »Sie war eine gute Frau, eine gute Kriegerin«, sagte Iome.
    »Ja, es ist ein fürchterlicher Verlust«, stimmte die Days zu.
    »Werdet Ihr mir helfen, sie zu den Gräbern zu schaffen?«
    fragte Iome. »Ich kenne eine Gruft, einen Ort zu Ehren der Gardisten. Wir werden sie zu meiner Mutter legen.«
    Die Days nickte schwach. An einem so düsteren Tag rührte diese kleine Geste Iome sehr. Sie war dankbar.
    Also fütterte sie die Übereigner zu Ende, dann besorgten sie und ihre Days sich eine Bahre, breiteten eine Decke als Leichentuch über Cleas, trugen sie zur Südmauer des Bergfrieds und setzten sie neben fünf weiteren verhüllten Bahren auf der Erde ab – auf vieren davon lagen Übereigner, die die Nacht nicht überlebt hatten.
    Unter dem letzten Leichentuch aus Sackleinen lag Iomes Mutter, Venetta. Ein schmales, goldenes Diadem ruhte auf ihrer Brust und kennzeichnete den Leichnam der Königin.
    Eine schwarzweiße Springspinne war auf der Jagd nach einer herumsummenden Schmeißfliege auf das Diadem gekrabbelt.
    Iome hatte das Gesicht ihrer Mutter seit ihrem Ableben nicht mehr gesehen und traute sich kaum, das

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