Dunkel ueber Longmont
Leichentuch zurückzuziehen und einen Blick darauf zu werfen. Doch mußte sie wissen, ob man sich der Leiche ihrer Mutter geziemend angenommen hatte.
Den ganzen Morgen über war sie dieser Pflicht ausgewichen.
In der Nacht war Kanzler Rodderman gekommen, der sich um die Vorkehrungen für Venettas Begräbnis kümmerte.
Seitdem hatte Iome ihn nicht mehr gesehen. Vielleicht hatte er außerhalb des Bergfrieds der Königs zu tun. Sie vermutete jedoch, daß er beschlossen hatte, es wäre das beste, Raj Ahten nicht über den Weg zu laufen. Gut möglich, daß Rodderman sich sogar vor seinen Pflichten bei der Herrichtung des Leichnams gedrückt hatte.
Raj Ahtens Männer hatten die Tote in den Bergfried der Übereigner geschafft. Der Wolflord hatte sie nicht im großen Saal lassen wollen, obwohl es der Brauch eigentlich verlangte, daß sie am Morgen aufgebahrt wurde, damit die Untertanen sich von ihr verabschieden konnten. Die Königin, für alle sichtbar tot auf einer Bahre, hätte möglicherweise Unruhe in der Stadt hervorgerufen.
Statt dessen hatte man sie einsam innerhalb der hohen und engen Mauern des innersten Bergfrieds untergebracht, wo nur die Übereigner sie zu Gesicht bekommen würden.
Iome zog das Leichentuch aus Sackleinen zurück.
Das Gesicht ihrer Mutter war anders, als sie es in Erinnerung hatte. Abgesehen von der entstellenden Wunde war es, als blickte man in das Gesicht einer Fremden. Venetta hatte sechs Gaben der Anmut besessen und war bestimmt eine große Schönheit gewesen. Im Tod jedoch war diese Schönheit von ihr gewichen. Graue Strähnen hatten sich unter ihre schwarzen Locken gemischt. Ihre Augen wirkten dunkel und eingefallen. Die Züge ihres weichen Gesichts waren hart und alt geworden.
Man hatte die Frau auf der Bahre gewaschen, doch die klaffende Wunde auf ihrer linken Gesichtshälfte, wo Raj Ahtens Siegelring die Haut aufgerissen hatte, und die Kerbe in ihrem Schädel, wo ihr Kopf auf die Pflastersteine getroffen hatte, waren nicht verdeckt worden.
Die Frau unter dem Leichentuch erschien ihr wie eine Fremde.
Nein, Raj Ahten hatte keinen Grund, die Untertanen zu fürchten. Wegen des Todes dieser alten Frau würden sie sich nicht erheben.
Iome ging zum Fallgatter, zum Kommandanten der Garde, einem kleinen Mann mit Schnauzer und in voller Rüstung, mit einem Helm mit Silberprägung. Es kam ihr seltsam vor, daß Ault und Derrow fort waren, nachdem sie so viele Jahre an diesem Burgtor Wache gehalten hatten.
»Sir, ich bitte um die Erlaubnis, die Toten zur Grabstätte des Königs zu bringen«, sagte Iome und hielt den Atem an.
»Die Burg wird angegriffen«, sagte der Kommandant barsch mit schwerem taifanischem Akzent. »Das wäre im Augenblick nicht sicher.«
Sie widerstand dem Drang, sich davonzustehlen. Natürlich wollte sie den Kommandanten nicht gegen sich aufbringen, aber sie empfand es als ihre heilige Pflicht, ihre Mutter zu begraben, dieser Frau wenigstens einen letzten Akt der Würde zu erweisen. »Die Burg wird nicht angegriffen.« Iome versuchte vernünftig zu klingen. »Sondern nur ein paar Nomen in den Wäldern.« Mit einer Handbewegung zeigte sie hinaus auf das verbrannte Schlachtfeld vor der Stadt. »Und wenn Orden angreifen sollte, würdet Ihr ihn schon eine halbe Meile vorher kommen sehen. Außerdem müßte er die äußere Mauer durchbrechen. Es ist unwahrscheinlich, daß jemand bis in den Bergfried der Übereigner vordringt.«
Der kleine Mann hörte ihr mit zur Seite geneigtem Kopf aufmerksam zu. Iome wußte nicht, ob er sie verstand.
Vielleicht hatte sie zu schnell gesprochen. Sie hätte ihn auf chaltisch ansprechen können, bezweifelte aber, daß er das verstand.
»Nein«, erwiderte der kleine Mann.
»Dann soll ihr Geist an Euch Rache nehmen, denn mich trifft keine Schuld. Ich möchte nicht von einem Runenlord verfolgt werden.«
In den Augen des kleinen Mannes blitzte Angst auf.
Angeblich machten die Geister toter Runenlords mehr Ärger als die meisten anderen – vor allem, wenn sie eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Iome hatte zwar keine Angst vor dem Schatten ihrer Mutter, dieser kleine taifanische Kommandant jedoch stammte aus einem Land, in dem solcher Aberglauben weit ernster genommen wurde.
»Beeilt Euch«, sagte der Kommandant. »Geht schon. Jetzt gleich. Aber nehmt Euch nicht mehr als eine halbe Stunde Zeit.«
»Danke«, sagte sie und streckte die Hand aus, um ihn aus Dankbarkeit zu berühren. Der Kommandant schreckte vor ihr zurück.
Iome rief
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