Dunkel wie der Tod
Köpfen vor sich ging: Ob sie wohl ein liederliches Frauenzimmer war, vielleicht gar eine richtige Hure â oder eine von ihnen? Die Frauen musterten prüfend ihr Gesicht, die Männer ihr Dekolleté.
Sie musste vor ihren kritischen Blicken bestanden haben â zumindest vor den Blicken des Zigarrenrauchers, der kurz seinen Hut zog und sich vor ihr verneigte, bevor er zu ihr trat und ein Streichholz anrieb. Nell nahm einen Zug, hielt den Rauch kurz im Mund und stieà ihn wieder aus. âBesten Dankâ, sagte sie.
âKeine Ursache.â Er nickte ihr zu und gesellte sich wieder zu den anderen, die bereits die Stufen zum Pooleâs hinabstiegen. Als ob sie dazugehörte, schlenderte Nell hinter ihnen her.
âGuten Abend, Mr. Cabot, Mr. Armoryâ, begrüÃte der Türsteher sie ehrerbietig. âMeine Damen.â
Als Nell an ihm vorbeiging, wandte sie den Kopf wohlbedacht ein wenig ab und blies den Rauch ihrer Zigarette aus. Er führte sie den tristen Gang entlang, und je näher sie einer weiteren Tür am Ende des Korridors kamen, desto vernehmlicher wurden das gedämpfte Stimmengewirr und die Musik, die dahinter spielte. Sobald er ihnen die Tür öffnete, tat sich vor ihnen ein Saal auf, der hell erleuchtet war und so voller Lärm und Menschen brodelte, dass Nell einen Moment lang schwindelte.
Wie Alice, als sie ins Wunderland kam, dachte Nell und lieà ihren Blick über das muntere Treiben und die rauchverhangene Pracht vor sich schweifen â über die kristallenen Kronleuchter, goldgerahmten Spiegel und plüschigen Möbel, den Pianisten, der an einem schimmernden Flügel âJuanitaâ spielte, und die Kellner, die sich geschickt ihren Weg durch die Menge bahnten und ihre Tabletts hoch über den Köpfen ihrer eleganten Kundschaft balancierten. An der hinteren Wand war ein üppiges Büfett angerichtet, links standen unter einem halben Dutzend hell strahlender Hängeleuchten Spieltische für Poker und Faro, an denen fast ausschlieÃlich Männer saÃen, allesamt recht fesch anzusehen mit schwarzem Frack und weiÃer Halsbinde. Die Damen â ausnahmslos jung und sehr betörend gekleidet in die neuesten Kreationen aus Paris â, hatten sich zumeist in die andere Hälfte des Saals zurückgezogen, wo in gedämpfterem Licht samtene Sessel und plüschige Sofas um niedrige Marmortische gruppiert waren.
Vorsichtig wagte Nell sich in dieses schillernde Gelage vor, sorgsam darauf bedacht, sich rechter Hand zu halten und nicht aufzufallen, während sie unter den Spielenden nach Harry Hewitt Ausschau hielt. Die Spieltische standen jedoch so, dass nur die Kartengeber ihr das Gesicht zuwandten, die Spieler ihr hingegen den Rücken zukehrten. In Anbetracht der immer gleichen schwarzen FrackschöÃe, des dichten Rauchs und Nells Entfernung zum Geschehen, war es eine recht mühselige Angelegenheit, dort überhaupt jemanden auszumachen.
âNell? Du lieber Himmel, Sie sind es wirklich!â Die tiefe Stimme mit dem ausnehmend britischen Akzent war ihr so wohlvertraut â und wie überrascht war sie, sie zu hören! â, dass es Nell auf einmal war, als würde ihr Herz sich zu einem festen kleinen Knoten zusammenziehen. Rasch wandte sie sich um und sah denn auch niemand anderen vor sich als William Hewitt, der sich mit ungläubiger Miene aus einem der samtenen Sessel erhob.
âDr. Hewitt.â Fassungslos sah sie ihn an, und das nicht nur, weil sie nicht erwartet hatte, ihm hier zu begegnen â eigentlich überhaupt nicht erwartet hatte, ihm nach all diesen Monaten noch einmal zu begegnen â, sondern wegen seines Aussehens. Als sie ihn letzten Winter zum ersten Mal in jener tristen Zelle auf der Polizeiwache gesehen hatte, war er in jeder Hinsicht heruntergekommen gewesen: abgerissen und verschmutzt, völlig mitgenommen von einer unermüdlichen Vernehmung und vom Opium gezeichnet. Der William Hewitt jedoch, der heute Abend vor ihr stand mit dunklem Frack und weiÃer Halsbinde, glänzend schwarzem Haar und einer Orchideenblüte am Revers, schien ein völlig anderer zu sein.
âSind wir nun wieder bei âDr. Hewittâ gelandet?â, fragte er mit gespielter Empörung. âWaren wir zuletzt nicht übereingekommen, uns beim Vornamen zu nennen? Oh Nell, wie auÃerordentlich unfair von Ihnen, die Spielregeln unserer Bekanntschaft zu ändern, ohne mich auch
Weitere Kostenlose Bücher