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Dunkel wie der Tod

Dunkel wie der Tod

Titel: Dunkel wie der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P.B. RYAN
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als er ihr auch schon die Tür vor der Nase zuwarf. Einen Moment lang war sie fassungslos, dann drehte sie sich um und stieg die Stufen wieder hinauf. Nulty hockte mit einer Flasche auf seinem Kutschbock und lachte vergnügt vor sich hin. „Warum lachen Sie?“, wollte Nell wissen. „Das war mir ziemlich peinlich. Sie haben mich zur falschen Tür geschickt.“
    â€žDie Tür stimmt schon, aber der Bursche macht auch nur seine Arbeit – und er fand wohl, dass Sie nicht die richtige Kundschaft sind.“
    â€žAber doch wohl nicht, weil … Glauben Sie, er hat gemerkt, dass ich Irin bin?“
    â€žNee, schauen Sie lieber mal, wie Sie angezogen sind.“
    Nell sah an sich hinunter. Unter ihrem Schultertuch trug sie ihr mit Abstand hübschestes von all den schlichten und doch eleganten Kleidern, die Viola ihr im Laufe der letzten vier Jahre geordert hatte – eine Kreation aus rauchgrauem Batist über einem dazu passenden seidenen Unterkleid. Obwohl es streng geschnitten war, mit langen Ärmeln und einem züchtigen Kragen aus Brüsseler Spitze, war der Stoff des Überkleides doch so hauchdünn, dass ihre bloßen Arme und das enge, tief ausgeschnittene Unterkleid hindurchschimmerten. „Es ist mein einziges Kleid, in dem ich nicht aussehe, als würde ich Halbtrauer tragen.“
    Nulty feixte. „Och, das tut mir aber so was von leid.“ Er stöpselte seine Whiskeyflasche zu und meinte: „Sie seh’n aus wie die Frau Gemahlin von einem der Schnösel aus Beacon Hill, die sich aufmacht ins North End, um wohltätige Werke zu tun. Was glauben Sie wohl, weshalb ich Sie vorhin gefragt hab, ob Sie da drin beten wollen? Der Bursche da dürfte sich dasselbe gedacht haben.“
    Das helle Lachen einer Frau ließ sie beide zu der Treppe schauen, die die Province und Bosworth Street miteinander verband. Im flackernden Schein der Öllaterne sah Nell zwei junge Paare, die mit unsicheren Schritten die steinernen Stufen hinabstiegen. Eine der beiden Damen ließ sich ihren Umhang von den Schultern gleiten und enthüllte darunter ein schulterfreies Kleid aus blauem Satin – ausnehmend schick und ziemlich gewagt.
    Einer der Herren blieb am Fuß der Treppe stehen, um sich eine Zigarre anzuzünden. Nie zuvor hatte Nell einen Mann seines Standes auf der Straße rauchen sehen, verstieß dies doch sowohl gegen den guten Ton als auch gegen die Stadtverordnung. Doch die vier schienen jenen lebensfrohen und aufgeschlossenen Kreisen anzugehören, von denen Nell – wohlbehütet in der gesitteten und traditionellen Welt der altehrwürdigen Bostoner Oberschicht – allenfalls gehört hatte.
    â€žSpence, alter Junge“, meinte der andere Herr, schon ein wenig lallend, „kanns’ du damit nich’ warten, bis wir im Poole’s sind?“
    â€žDu wirst nur wieder ein Bußgeld zahlen müssen“, warnte die Dame in dem blauen Kleid.
    â€žHier gibt’s keine Wachmänner“, erwiderte er und drehte bedächtig die Spitze seiner Zigarre in der Streichholzflamme.
    â€žHalten Sie das bitte mal“, sagte Nell und reichte Nulty ihr Schultertuch, nahm sich den Hut ab und reichte ihm den ebenfalls. Seine Augen weiteten sich ungläubig, als sie auch den Spitzenkragen ablegte und die oberen Knöpfe ihres Kleides öffnete, um ihr Dekolleté zu entblößen. Um ihre Frisur etwas zu beleben – wie üblich trug sie ihr Haar zu einem braven Chignon aufgesteckt –, zupfte sie einige Strähnen hervor und ließ sie sich, ähnlich wie die Dame im blauen Kleid, lockig um das Gesicht fallen. Ihre Handschuhe würde sie anlassen, entschied sie, doch die gouvernantenhafte Gürtelkette, an der sie unter anderem ihren Handbeutel trug, musste verschwinden. Bevor sie Nulty den Beutel reichte, holte sie noch rasch die Zigarette heraus, die sie bei ihrem Besuch in der Tuchfabrik von Otis bekommen hatte.
    Der Kutscher schüttelte grinsend den Kopf, als Nell sich umdrehte und die beiden Pärchen grüßte. „Entschuldigt, aber hätte jemand von euch vielleicht Feuer?“
    Im ersten Moment sahen die vier sie nur verwundert an, denn wenngleich Zigaretten langsam bei den jungen und reichen Dandys und Draufgängern in Mode kamen – auch Will Hewitt rauchte sie –, so war es doch noch äußerst selten, dass Frauen dieses Laster pflegten. Nell wusste genau, was jetzt in ihren

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