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Dunkel wie der Tod

Dunkel wie der Tod

Titel: Dunkel wie der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P.B. RYAN
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Eltern verbracht.
    Nell hielt sich ihre Medaillonuhr dicht vor die Augen und versuchte die Uhrzeit zu entziffern – fast schon zehn. Seit über einer Stunde trieb sie sich demnach hier vor dem Haus herum und wartete darauf, dass Harry zu seinen nächtlichen Ausschweifungen aufbrechen würde.
    Sie zog ihr Schultertuch enger um sich, steckte es fest und rieb sich fröstelnd die Arme. Für einen Septembertag war es heute ungewöhnlich warm gewesen, weshalb sie sich dazu hatte verführen lassen, ihr liebstes Sommerkleid ein letztes Mal in diesem Jahr zu tragen. Mit Einbruch der Dunkelheit war die Temperatur allerdings rapide gesunken, und nun begann Nell doch langsam zu frieren.
    Gestern Abend hatte sie gleichfalls hier Wache gestanden, wenn auch nicht ganz so lang. Nachdem sie aus Charlestown zurückgekehrt war, hatte sie Gracie ihr Abendessen gegeben, sie zu Bett gebracht und war dann in der Hoffnung hierhergelaufen, Harry an irgendeinen öffentlichen Ort folgen zu können, wo sie ihn in relativer Sicherheit befragen wollte – denn niemals wieder würde sie ihm wieder völlig allein gegenübertreten. Nur leider hatte er sein Haus nicht verlassen. Um halb neun war sein Kammerdiener aus dem Haus gekommen und zur Straßenecke gelaufen, so wie jetzt auch, hatte sich eine Mietkutsche herbeigewunken, die nach Süden in Richtung Arlington Street fuhr, und war damit vierzig Minuten später wieder vorgefahren. Speck sprang heraus und bezahlte gerade den Fahrer, als hinter ihm zwei Frauen laut kichernd aus der Kutsche kletterten. Die beiden stellten sich dabei recht ungeschickt an – allerdings nicht, weil niemand ihnen beim Aussteigen half, sondern weil sie ganz offensichtlich sturzbetrunken waren. Es waren Straßenmädchen von der übelsten Sorte, die Wangen rot angemalt, den Busen entblößt und den Hintern keck herausgestreckt. Und sie waren nicht einmal hübsch, wenngleich sie eine schamlose Sinnlichkeit ausstrahlten, der die meisten Männer nicht widerstehen konnten. Lachend und lärmend stolperten sie dem Kammerdiener hinterher, der sie eilig die Treppe hinauf und ins Haus scheuchte. Wenig später schien helles Lampenlicht aus dem Fenster des Schlafgemachs im ersten Stock. Hinter den Vorhängen konnte Nell noch die dunklen Umrisse, die sich bewegenden und miteinander verschmelzenden Schatten sehen …
    Allem Anschein nach durften sowohl Harrys Sekretär in der Tuchfabrik als auch sein heimischer Kammerdiener die Zuhälterei zu ihren zahlreichen und abwechslungsreichen Pflichten rechnen.
    Enttäuscht, doch keineswegs entmutigt, war Nell daraufhin in die Colonnade Row zurückgekehrt und hatte beschlossen, es am nächsten Tag noch einmal zu versuchen. Als Edwin Speck nun abermals an der Ecke Arlington Street eine Kutsche herbeiwinkte, begann Nell sich ernstlich zu fragen, ob Harry – verwöhnt und bequem, wie er war – wohl gar nicht mehr selbst ausging, um sich abendliche Unterhaltung zu suchen, sondern sich seine Vergnügungen lieber frei Haus liefern ließ.
    Nun doch etwas entmutigt, stöhnte sie leise, als eine Mietkutsche an den Straßenrand ausscherte. Diesmal jedoch stieg Speck nicht ein, sondern sagte nur kurz etwas zu dem Fahrer, der sein Gespann daraufhin wendete und die Commonwealth Avenue hinunterfuhr. Als der Wagen vor der Nummer 10 hielt, gefolgt im Eilschritt von dem unermüdlichen Kammerdiener, trat auch schon Harry Hewitt aus dem Haus – wie immer adrett in Abendgarderobe, einschließlich einer seiner extravaganten Westen, deren scharlachroter Brokat orientalisch gemustert unter dem offenen Frack hervorschimmerte.
    Nell stieß ein kurzes Dankesgebet aus, während sie Harry beobachtete, der sich seinen Zylinder angemessen verwegen zurechtrückte, als er geschwind die Treppe hinunterlief, wobei sein langer cremefarbener Seidenschal elegant flatterte. Sein Kammerdiener verbeugte sich und hielt ihm den Verschlag der Kutsche auf. „Viel Glück heute Abend und ein gutes Blatt, Mr. Hewitt.“
    Harrys Erwiderung war nicht mehr als ein unverständliches Schnauben. Mit gelangweilter Miene ließ er sich in die Sitzpolster sinken, derweil Speck den Kutscher instruierte: „Der Herr fährt zum Orlando Poole’s.“
    â€žWas’n das?“, wollte der junge Fahrer wissen. „Ein Restaurant?“
    â€žHimmel Herrgott noch mal!“, ließ sich da Harry ungehalten vernehmen.

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