Dunkel wie der Tod
vielleicht dazu bringen können, mir zuzuhören, sich zu ändern ⦠wäre ich nicht so sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen.â
âDie meiste Zeit waren Sie in Englandâ, erinnerte sie ihn. âIch wüsste nicht, was Sie während der wenigen Wochen hätten ausrichten wollen, die Sie jedes Jahr zu Hause verbracht haben.â
âUnd wir werden es auch nie mehr erfahren. Was jedoch nicht heiÃt, dass ich nicht immer noch versuchen könnte, verlorene Zeit aufzuholen. Seit meiner Rückkehr nach Boston ist dies schon der dritte Abend, den ich mit Harry verbringe.â
âFalls Sie sich mit ihm in der Hoffnung aussöhnen, ihn doch noch zu einem aufrichtigen Gentleman mit gefestigter Moral und gesittetem Lebenswandel zu formen, dann viel Glück dabei. Sie werden es brauchen.â Spöttisch hob sie ihr Glas und prostete ihm zu.
Lächelnd sah er sie an. âIch habe Sie vermisst, Nell.â
Sie schlug die Augen nieder, nahm einen Schluck Sherry. âWas haben Sie während der letzten Monate gemacht?â
âWas ich immer macheâ, meinte er achselzuckend. âDrei bis vier Städte, hundert Kartenspiele.â
âWerden Sie länger in Boston bleiben?â
âIch bin wegen eines Pokerspiels mit auÃergewöhnlich hohen Einsätzen gekommen, das nächsten Montag im Parker House stattfindet. Haben Sie mich vermisst?â
âOh, verdammt!â
Nell schaute auf und sah Harry schwankenden Schrittes nahen, ein Glas Whiskey in der einen Hand, eine Zigarre in der anderen, die Miene voller Abscheu, als er Nell entdeckte.
âDu befindest dich in Gesellschaft einer Dame, alter Jungeâ, warnte Will ihn.
âAch ja â wo denn?â Harry sah sich suchend um. âIch sehe nur ein kleines unverschämtes irisches Luder, das sich hier reingeschlichen hat, wo sie â¦â
âDas reicht, Harry.â Will stand auf, seine Miene gespannt.
Harry wich einen Schritt zurück und grinste. âNun mal ruhig. Wozu sich wegen eines Früchtchens in die Haare kriegen, das du pflücken willst? Reif ist sie, das muss man ihr lassen, aber ziemlich sauer und verdammt hart vom Stiel zu kriegen. Ich weiÃ, wovon ich rede.â
Will sagte: âWenn dir nach einer blutigen Nase zumute ist, Harry, bin ich nur zu gerne bereit â¦â
âGanz ruhig, Bruderherz. Eigentlich wollte ich nur wissen, was zum Teufel dir einfällt, mir dieses fade Gesöff bringen zu lassen?â Er schwenkte sein Glas hin und her, sodass der Whiskey herausschwappte.
âDein Absinthgenuss scheint mir etwas aus dem Ruder zu laufenâ, erwiderte Will. âAn deiner Stelle würde ich mich ein wenig zügeln.â
âAh ja. Aber du bist nicht an meiner Stelle. Und du bist auch nicht mein Aufpasser. Ich wäre dir also sehr verbunden, wenn du deine Nase nicht in Angelegenheiten steckst, die dich nichts angehen.â
âEs sollte nicht meine Angelegenheit sein, wenn mein Bruder sich Trinkgewohnheiten verschrieben hat, die bekanntermaÃen zu schweren Psychosen führen?â
Harry lächelte süffisant. âWenn du glaubst, du könntest mich mit so geheimnisvollen medizinischen Begriffen beeindrucken â¦â
âWahnsinnâ, stellte Will klar. âHalluzinationen, Krämpfe, Anfälle. Absinthismus führt zu Gewalttätigkeit, Mord, Selbstverstümmelung â¦â
âAusgerechnet du willst mir Standpauken über schlechte Angewohnheiten haltenâ, spottete Harry. âWas glaubst du wohl, würde ich finden, wenn ich die Taschen deines feschen Fracks durchsuchen würde? Vielleicht ja ein kleines Fläschchen mit Morphiumlösung? Eine Injektionsnadel?â
âUnd genau deshalb will ich dir einen guten Rat gebenâ, entgegnete Will. âSeit bald einem halben Jahr bist du ein Absinthtrinker â stimmt doch, oder? Du tätest gut daran, damit aufzuhören, solange du noch die Disziplin dazu aufbringen kannst.â
âDisziplin?â Harry lachte höhnisch. âWas lässt dich glauben, dass ich so ein Leiden jemals hatte?â Er wandte sich an Nell und meinte: âDavon sind wohl eher Sie geplagt, nicht wahr, Miss Sweeney? Falls Sie jemals schon etwas Unziemliches gesagt oder getan haben â mal abgesehen von dem recht unterhaltsamen kleinen Spektakel in unserer Opernloge letzten Winter â, so durfte ich noch nie Zeuge davon sein
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