Dunkel wie der Tod
âWill Hewitt. Es freut mich sehr, dich kennenzulernen.â
Gracie, die ein sehr wohlerzogenes Kind sein konnte, wenn sie wollte, erwiderte: âGanz meinerseits, Mr. Hewitt.â
âDr. Hewittâ, berichtigte Nell.
âBist du ein Doktor?â, fragte Gracie da. âSo wie Dr. Drummond?â Der alte Dr. Drummond war seit dreiÃig Jahren der Hausarzt der Hewitts.
Will zögerte. âIch war einer.â
âHast du das jetzt verlernt?â
Er rieb sich mit der Hand das Kinn. âNein, aber â¦â
âWir haben ja den gleichen Namen!â Gracies Aufmerksamkeit konnte bisweilen recht sprunghaft sein.
âDas kommt daher, weil Dr. Hewitt der Sohn von Nana und Papa istâ, erklärte ihr Nell.
âSo wie Onkel Martin und Onkel Harry?â
âGenau so.â
Gracie beugte sich zu Nell und flüsterte: âSoll ich ihn dann nicht Onkel Will nennen?â
Nell schaute zu Will hinüber, der noch immer in der Hocke saà und nun versonnen seine Hände betrachtete. Dann lächelte er Gracie an. âEine gute Idee ⦠zumindest die nächste Zeit.â
Er streckte die Hand nach ihr aus, strich seiner Tochter das Haarband glatt, fuhr mit seinen Fingern leicht durch ihr Haar und über ihre pausbackige, flaumig weiche Wange, bevor er seine Hand wieder zurückzog.
Gracie schaute auf ihre Brotkrumen und meinte: âIch muss jetzt die Enten füttern. Ich fütter sie jeden Tag nach meinem Mittagsschlaf, und sie sind immer ganz hungrig.â
âDann solltest du sie auch nicht länger warten lassenâ, sagte er und richtete sich wieder auf.
Sie drehte sich um und rannte zum Wasser, wo sie den schon sehnsüchtig wartenden Enten ein paar Krumen hinwarf.
Will beobachtete sie noch einen Augenblick und sagte dann, an Nell gewandt: âGracie macht sich sehr gut bei Ihnen.â
âDankeâ, erwiderte sie, tatsächlich von tiefstem Herzen dankbar.
âWeià sie, dass sie adoptiert wurde?â
âSie weiÃ, dass Ihre Eltern nicht ihre richtigen Eltern sind. Ihre Mutter hat ihr gesagt, sie habe sie sich ausgesucht, weil sie sich schon immer ein kleines Mädchen wie sie gewünscht hätte.â In gewisser Weise entsprach das sogar der Wahrheit, wenngleich einer recht vereinfachten und geschönten Version. âMehr würde sie jetzt auch noch gar nicht verstehen. Wenn Gracie älter ist, will Ihre Mutter es ihr genauer erklären, aber sie ist sich unschlüssig, ob sie ihr auch von ⦠Ihnen und Annie erzählen soll.â Annie McIntyre war jenes Zimmermädchen, das sich einst in ihrem Kummer über die lange Abwesenheit ihres Gatten in Wills Bett geflüchtet hatte. Damals â 1863 â hatte gerade der Bürgerkrieg erbittert getobt, und Will hatte während des weihnachtlichen Heimaturlaubs bei seinen Eltern ein einziges Mal Trost in Annies Armen gefunden. Neun Monate darauf hatte das Zimmermädchen Gracie zur Welt gebracht.
Will wirkte nachdenklich, während er Gracie dabei zusah, wie sie Krümel für Krümel der Brioche an die Enten verteilte.
âDürfte ich?â Er deutete auf den Platz neben Nell, wo sie ihren groÃen schwarzen Regenschirm und Gracies kleinen rosafarbenen auf die Bank gelegt hatte.
âGerne.â Nell nahm die Schirme und lehnte sie gegen die Armlehne, rückte ein wenig zur Seite und raffte ihren Rock zusammen, obwohl genügend Platz auf der Bank war. Sie kam sich ziemlich dumm vor, weil seine Nähe sie so verwirrte, und es wäre ihr sehr peinlich, wenn er das bemerken würde.
Er nahm mit respektablem Abstand zu ihr Platz, schlug die Beine übereinander und holte ein ledernes Zigarettenetui hervor. âStört es Sie?â
âMich nicht, aber vielleicht ja die Bostoner Polizei.â
âBei so einem Wetter setzen die keinen Fuà nach drauÃen, sondern machen es sich lieber auf der Wache gemütlich.â Er zündete sich seine Zigarette an und schnippte das Streichholz aus. âIch bin gestern Nacht noch einmal zum Pooleâs zurückgegangen.â
âWar Ihr Bruder noch dort?â, fragte sie, zerkrümelte ganz in Gedanken die Brioche und lieà Gracie nicht aus den Augen.
Will nickte und blies den Rauch aus, der wie Nebel in der feuchten Luft hing. âDie haben ihn ausbluten lassen â als ich zurückkam, hatte er schon über sechshundert Dollar verloren.â
Nell verschlug
Weitere Kostenlose Bücher