Dunkel wie der Tod
schuldig, ebenso wie Bridies Mutter â und nicht zuletzt auch Bridie â, diese Angelegenheit aufzuklären.â
âSeltsamâ, befand Will, âdass Sie glauben, es meiner Mutter schuldig zu sein zu beweisen, dass ihr Sohn etwas mit Bridies Verschwinden zu tun hat, und sogleich verhindern wollen, dass sie je davon erfährt, wie er versucht hat, Sie zu vergewaltigen.â
Vergewaltigen. Nun war es gesagt, dieses unverblümte schreckliche Wort, laut ausgesprochen stand es plötzlich inmitten dieses viel zu kleinen vertraulichen Raums, auf dem sie Schutz vor dem Regen suchten. Von einem unerbittlichen, verstörenden Gefühl der Scham überkommen â eigentlich völlig unbegründet, dennoch überwältigend â, wusste Nell kaum, wohin sie schauen, was sie sagen sollte.
Will umfasste ihr Kinn, damit sie zu ihm aufsah. âNell â¦â
Tränen stiegen in ihr auf, als sie die Zärtlichkeit in seiner Stimme hörte ⦠in seiner Berührung spürte. Sie schloss die Augen und schluckte schwer.
Leise sagte er: âWas Harry getan hat, war unverzeihlich. Ich weiÃ, welch ein Albtraum es für Sie gewesen ist â was es umso bemerkenswerter macht, dass Sie sich erfolgreich zur Wehr setzen konnten.â
Sie öffnete die Augen und fand sein Gesicht dem ihren ganz nah. Der Regen hatte nachgelassen und war nur noch ein leise flüsterndes Nieseln.
âAber meinen Sie nichtâ, sagte Will, âdass Ihre Gründe dafür, Harry in dieser Angelegenheit zu verdächtigen, auch etwas damit zu tun haben, dass â¦â
âSie denken, ich wolle ihn für die eine Tat bestrafen, indem ich ihn einer anderen bezichtige?â
âNicht bewusst, aber vielleicht â¦â
âNein. Nein, Will. Ich verdächtige ihn allein aufgrund dessen, was und wer er ist, und nicht deswegen, was er mir getan hat. Und was Ihre Mutter anbelangt â¦â Nell holte tief Luft. âVor ihr zu verbergen, dass ihr Sohn sich so hemmungslos gibt, ist das eine â etwas ganz anderes aber ist es, zu vertuschen ⦠was auch immer mit Bridie geschehen ist.â
âMal angenommen, dass sie nicht einfach durchgebrannt ist mit diesem â¦â
âMal angenommen, sie ist nicht mit Virgil Hines durchgebrannt. Ja, es würde Ihrer Mutter das Herz brechen, müsste sie erfahren, dass Harry Bridie etwas angetan hätte. Aber sollte er das getan haben, muss sie davon erfahren â und er verdient es, dafür bestraft zu werden. Es gibt eine Grenze, die ich niemals überschreiten würde, um ihre Gefühle zu schützen â und sie würde auch niemals von mir erwarten, dass ich das täte.â
Will wandte sich um und blickte zu Gracie hinüber, die unter den tropfenden Zweigen der riesigen Eiche hervorgekommen war und zum Himmel aufschaute. Es hatte endlich aufgehört zu regnen, und zwischen den Wolken versuchte gar die späte Nachmittagssonne durchzubrechen.
Will senkte den Schirm, schüttelte den Regen ab, faltete ihn zusammen. âWenn Sie die Sache unvoreingenommen angehen wollen, sollten Sie sich auf jeden Fall ebenso sehr auf Virgil Hines konzentrieren wie auf meinen Bruder.â
Nun, da der Schirm nicht mehr über sie gespannt war, wurde Nell sich bewusst, wie nah sie beieinanderstanden. Sie trat einen Schritt zurück und sagte: âSie haben völlig recht â Ihr Bruder war jedoch leichter ausfindig zu machen.â
Er hob in belustigter Verwunderung die Brauen. âIch hätte nicht von Ihnen erwartet, dass Sie den Weg des geringsten Widerstands gehen würden.â
âWenn Sie wüssten, wie viel Arbeit es macht, eine Vierjährige zu betreuen, würden Sie sich derlei Scherze sparen.â
âAber sicher haben Sie doch auch einmal einen freien Tagâ, meinte er.
âGewiss â den ganzen Samstag und Sonntagnachmittag, nach der Kirche.â
âWollen Sie mir etwa erzählen, dass Sie die Familie zur Kingâs Chapel begleiten müssen?â
âGlauben Sie wirklich, ich würde mich gegen meinen Willen zum Protestantismus bekehren lassen?â, fragte sie lachend. âNein, ich gehe zur Frühmesse in St. Stephen und bleibe danach zu Hause bei Gracie, während Ihre Eltern und Miss Parrish in der Kirche sind, und danach â¦â, Nell zuckte die Schultern, â⦠kann ich tun, was immer mir beliebt.â
âSt. Stephen? Im North End?
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