Dunkel wie der Tod
geraten.â
âSie haben sich aber wieder rechtzeitig in den Griff bekommenâ, erwiderte Will.
âNun ja ⦠gerade so. Es war sehr knapp.â
âAm besten ist es, wenn man sich gar nicht erst aus der Ruhe bringen lässt oder die Kontrolle über sich verliertâ, meinte er. âSobald uns Gefahr droht, beginnt unser Herz zu rasen. Wir fangen an zu zittern, atmen schneller, der Schweià bricht uns aus. Die Kunst besteht darin, die Angstreflexe des Körpers zu überwinden. Sie müssen Ihre Gedanken loslösen von dem, was Ihnen gerade geschieht. Denken Sie über sich selbst hinaus â am besten schon dann, bevor Sie tatsächlich in Gefahr sind.â
âDenken Sie über sich selbst hinaus?â, wiederholte sie skeptisch.
âEs ist schwer in Worte zu fassen, aber so stelle ich es mir vor â als wäre man nur Zuschauer dessen, was passiert, als selbst daran beteiligt. Es hilft mir, klar zu denken, die Schritte meines Gegners vorherzusehen, meine besten Treffer zu landen.â
âMit etwas Glück werde ich mich nie wieder in einer solchen Lage befinden.â
âWenn Sie das allein Ihrem Glück überlassen, wäre ich mir da nicht so sicher.â
âSie wissen, dass ich mich nicht allein auf mein Glück verlassen werdeâ, erwiderte sie. âIch sagte bereits, dass ich es fortan vermeiden werde, mit Harry allein zu sein.â
Will schaute zu Gracie hinüber, rieb sich nachdenklich den Nacken. âIch weiÃ, was Sie von ihm halten, aber hätten Sie ihn vor dem Krieg gekannt, als er einfach nur einer von diesen sorglosen Jungs war ⦠Natürlich war er immer schon sehr lebenslustig, aber er war kein schlechter Kerl. Der Tod unseres Bruders Robbie hat ihn sehr mitgenommen. Danach hat er sich verändert â er wurde nicht nur maÃlos selbstsüchtig, sondern auch selbstzerstörerisch. So, wie er den Absinth in sich hineinschüttet, könnte er sich ebenso gut regelmäÃige Dosen Arsen zuführen oder eine Schlinge um den Hals legen, die sich langsam zuzieht â¦â
âFalls Sie meinen, ich würde nun Mitleid mit ihm empfinden, obwohl er mich â¦â
âDu liebe Güte, nein! Natürlich nicht. Was er Ihnen angetan hat, ist unverzeihlich.â
âUnd dennoch versuchen Sie, ihn zu entschuldigenâ, stellte sie fest.
Daraufhin schaute Will sie einen langen Augenblick an, während über ihnen der Regen immer noch stetig auf die straff gespannte schwarze Seide des Schirms trommelte. SchlieÃlich breitete sich ein feines Lächeln über sein Gesicht. âIch meinte es ernst, als ich gestern Abend sagte, ich hätte Sie vermisst.â
Haben Sie mich vermisst? Da sie nicht wollte, dass er sie das erneut fragte, sagte sie rasch: âAlle Welt sucht ständig nach Entschuldigungen für Harry. So wird er sich nie für seine Sünden verantworten müssen.â
âDa wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher.â Bevor sie ihn fragen konnte, was er damit meine, fuhr er auch schon fort: âHarry hat sich zwar etliche Fehltritte geleistet, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendetwas mit dem Verschwinden von Bridie Sullivan zu tun hat.â
âJa, weil er Ihr Bruder ist.â Wie konnten zwei Männer, die dieselbe Mutter hatten, nur so grundverschieden sein? Nell fand, dass Wills Loyalität zwar für ihn sprach, hier jedoch völlig unangebracht war. Was bedurfte es noch, damit er sich endlich eingestehen würde, wie Harry wirklich war? âBridie hatte Harry auf lange Sicht erpresst. Sobald er von Virgil erfahren hatte, war er jedoch nicht mehr bereit, auf ihre Forderungen einzugehen, würde aber auch nicht riskieren wollen, dass sie ihn bei seinem Vater anschwärzte, der ihn dann gewiss enterbt hätte.â
âWas glauben Sie denn, was Harry ihr angetan hat?â
âIch weià nicht, ob er ihr etwas getan hat, aber ich kann die Möglichkeit nicht auÃer Betracht lassen, nur weil er Ihr Bruder ist. Mir ist bewusst, dass Sie ihn lediglich für unreif halten â oder dem Absinth die Schuld geben â, aber ich glaube nun einmal, dass es Böses auf dieser Welt gibt, dass manche Menschen das Böse in sich tragen und Harry einer von diesen Menschen ist. Der Umstand, dass er Absinthtrinker ist, macht seine Schuld nur noch wahrscheinlicher. Es tut mir leid, Will, aber ich bin es Ihrer Mutter
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