Dunkel
wäre«, konnte er nur sagen.
10
»Lucy starb drei Tage nach ihrem fünften Geburtstag.«
Die Worte wurden ohne Emotion gesprochen, als ob Bishop sich von der Traurigkeit gelöst hätte, die sie begleiteten. Aber darunter, irgendwo tief in ihm, nährte der Schmerz sich selbst, schwächer jetzt, aber dennoch ein Lebewesen, eine langsam verebbende Krankheit. Jessica, die schweigend neben ihm durch den Londoner Park ging, schwieg. Die körperliche Kluft zwischen ihnen symbolisierte irgendwie ihre Feindseligkeit, eine Feindseligkeit, die kurzzeitig aufgehoben, dann aber wieder zurückgekehrt war. Als sie ihn jetzt von seiner Tochter sprechen hörte, wollte sie diese Kluft schließen, fand aber keine Möglichkeit, ihm näherzukommen.
Bishop blieb stehen und starrte in den grauen See, wo die Enten sich dicht an den Ufern aufhielten, als ob selbst sie seine Weite unheimlich fänden. »Kehlkopfbronchitis war die indirekte Ursache«, sagte er, ohne Jessica anzublicken. »Als ich noch Kind war, hieß das Krupp. Ihre Kehle verschloß sich, so daß sie nicht atmen konnte. Es dauerte lange, bis wir den Arzt dazu bringen konnten, sein warmes Bett zu verlassen, um sie in jener Nacht zu untersuchen - selbst damals gab es viele, die nur ungern Hausbesuche machten. Wir mußten dreimal anrufen, drohten beim zweiten Mal, bettelten beim dritten Mal, bis er kam. Vielleicht wäre er besser nicht gekommen.«
Jessica stand neben ihm und musterte sein Profil. Der schwere Stoff ihres Mantels streifte seinen Arm.
»Es war eine bitterkalte Nacht. Die Fahrt zum Hospital hat es vielleicht noch schlimmer für sie gemacht. Wir warteten zwei Stunden — eine Stunde, bis ein Arzt sie im Krankenhaus untersuchte, eine weitere Stunde, bis sie beschlossen hatten, was zu tun. Sie machten einen Luftröhrenschnitt, aber inzwischen hatte sie Lungenentzündung. Wir haben nie feststellen können, ob es der Operationsschock in ihrem schwachen Zustand oder die Krankheit selbst war, die sie umbrachte. Wir machten uns Vorwürfe - und dem Arzt, der sich zunächst geweigert hatte, zu kommen und dem Krankenhaus — aber vor allem Gott.«
Er lachte kurz und bitter. »Natürlich glaubten Lynn und ich damals an Gott.«
»Jetzt nicht mehr?« Sie schien überrascht, und Bishop drehte ihr seinen Kopf zu.
»Können Sie glauben, daß ein höheres Wesen ein solches Leid zuläßt?« Er nickte den hohen Gebäuden zu, als ob die ganze Stadt nur ein Behältnis für das Leid der Menschheit sei. »Lynn war Katholikin, aber ich glaube, ihre Ablehnung Gottes war stärker als meine. Vielleicht ist es so: Je mehr man an etwas glaubt, je mehr ist man dagegen, wenn der Glaube zerbrochen ist. In diesem ersten Jahr mußte ich Lynn Tag und Nacht beobachten. Ich glaubte, sie würde sich umbringen. Vielleicht hat meine Sorge um sie mich am Leben erhalten — ich weiß es nicht. Dann schien sie es zu akzeptieren. Sie wurde ruhig, aber es war eine brütende Ruhe, fast ab ob sie aufgegeben, das Interesse verloren hätte. Es war in gewisser Hinsicht entnervend, aber zumindest konnte ich darauf bauen. Ich konnte wieder ohne Hysterie planen. Ich plante, sie hörte zu. Das war etwas. Ein paar Wochen später erholte sie sich wieder, schien wieder zu leben. Ich fand heraus, daß sie Spiritistin geworden war.«
Bishop entdeckte eine Bank auf dem Weg hinter ihnen. »Sollen wir uns etwas setzen? Oder ist es zu kalt?«
Jessica schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nicht zu kalt.«
Sie setzten sich, und sie rückte näher an ihn heran. Er wirkte abwesend, schien ihre Anwesenheit kaum zu bemerken.
»Glaubten Sie damals an Spiritismus?« fragte sie.
»Was? 0 nein, nicht wirklich. Ich hatte nie zuvor darüber nachgedacht. Aber für Lynn war es wie eine neue Religion; es ersetzte ihr Gott.«
»Wie fand sie zu den Spiritisten?«
»Eine Freundin, die es wahrscheinlich gut meinte, erzählte ihr von einem Mann, der sich damit befaßte. Die Freundin hatte vor Jahren ihren Gatten verloren und angeblich mit ihm durch diesen Spiritisten Kontakt aufgenommen. Lynn schwor mir, daß er Lucy gefunden hätte. Sie sagte, sie hätte mit ihr gesprochen. Zuerst war ich ärgerlich, aber dann konnte ich die Veränderung sehen, die das bei Lynn bewirkt hatte. Sie fand plötzlich wieder einen Sinn im Leben. Das ging lange so weiter, und ich gebe zu, daß meine Argumente gegen ihre spiritistischen Besuche halbherzig waren. Sie bezahlte ihn natürlich für jede Sitzung, aber nicht soviel, daß ich bemerkte, wieviel Geld
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