Dunkelheit soll dich umfangen: Thriller (German Edition)
bereit sei, sich von Jims letzten Arbeiten zu trennen.
Natürlich wusste sie, dass sein Interesse nicht ganz selbstlos war, schließlich war er Geschäftsmann. Aber er hatte sie nie unter Druck gesetzt, hatte nie versucht, sie zu etwas zu überreden, wozu sie emotional noch nicht bereit war. Und jetzt war er tot.
Zu Hause angekommen, ging Vanessa direkt in die Küche. Wenn sie sich schlecht fühlte, wenn irgendetwas sie besonders mitnahm, half ihr Backen.
Äpfel, Zimt, Mehl und Butter standen vor ihr auf der Arbeitsfläche. Sie wollte einen Apfelstrudel machen, als Nachtisch. Während sie die Äpfel schälte, ebbte das Grauen des Tages allmählich ab. Sie backte gern, hatte aber nur selten Zeit dazu. In den Wochen nach Jims Tod hatte sie Unmengen Torten und Obstkuchen gemacht, hatte Trost gesucht in der Zubereitung süßer Speisen. Erst als der Strudel im Ofen war, erlaubte sie sich, an Christian Connor zu denken. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken, eine Tasse heißen Tee vor sich auf dem Tisch, und rief sich den Blick seiner rauchblauen Augen in Erinnerung. Er hatte sie nicht wie ein Kunde angesehen, sondern eher wie ein Mann, der sich für eine Frau interessierte.
Die Küche füllte sich mit dem verführerischen Duft von heißen Äpfeln und Zimt. Vanessa rührte einen Löffel Zucker in ihren Tee und dachte an den Mann, der sie großgezogen hatte.
Grandpa John war ein wunderbarer Mensch mit vielen Talenten gewesen. Er spielte Klavier nach Gehör, und meist wurde Vanessa morgens von den sanften Klängen von »Autumn Leaves« geweckt. Oder von dem ungleich muntereren »When the Saints Go Marching In«.
Er improvisierte auf dem Klavier, zog in seinem Garten wunderschöne, üppige Gewächse und Blumen und hätte eine eigene Konditorei aufmachen können. Fast jeden Tag wurde Vanessa nach der Schule vom Duft einer samtigen Schokotorte oder eines Pfirsichkuchens begrüßt.
Ihre Eltern hatten ihr das Leben geschenkt, doch es war Grandpa John gewesen, der ihr die Lust am Leben beibrachte. Als er starb, fürchtete sie, mit ihm könnten alle schönen Blumen, könnte alle Musik und alles Süße aus ihrem Leben verschwinden.
Sie steckte noch tief in der Trauer, als sie Jim kennenlernte . Vielleicht war es die Düsterkeit ihrer Trauer gewesen, die sie zu der Düsterkeit seiner Seele hinzog. Aber die Zeit hatte ihre Wunden geheilt, und mit Johnnys Geburt war ein Glück in ihr Leben getreten, das sie nie vorher gekannt hatte.
Vanessa trank ihren Tee aus, und ihre Gedanken kehrten zurück zu Andre. Obwohl sie wusste, dass sein Tod nichts mit ihr zu tun hatte, konnte sie den Traum nicht vergessen, der ihr den Tod jedes Mal prophezeite.
Bevor der Apfelstrudel fertig war, rührte sie Teig für Bananen-Nuss-Muffins an. Sie waren noch im Ofen, als Johnny aus der Schule kam.
Er zog besorgt die Nase kraus. »Was ist passiert?«, fragte er.
»Wieso denkst du, dass etwas passiert ist?«, fragte sie überrascht.
Er warf seine Schultasche auf den Tisch, setzte sich und zeigte auf den Apfelstrudel, der zum Abkühlen auf der Arbeitsfläche stand. »Hier riecht’s genauso wie damals, als Papa gestorben ist. So als wenn irgendwas Schlimmes passiert wäre.«
Vanessa starrte ihren Sohn verblüfft an. Wie schrecklich, dass er den Duft von frisch Gebackenem mit Unglück verband. Sie nahm sich vor, öfter zu backen, an ganz normalen Tagen, wenn sie keine schlimmen Nachrichten für ihn hatte. Aber heute hatte sie schlimme Nachrichten. Sie setzte sich neben ihn und erzählte ihm vom Mord an Andre. Johnny nahm die Nachricht ungerührt hin. Dann wechselte er mit der Unbekümmertheit der Jugend das Thema, berichtete von seinem Tag in der Schule und sagte, wie sehr er sich darauf freue, den Kardinal zu malen.
Sie aßen zu Abend, und anschließend arbeitete Johnny an seinem Referat, während Vanessa am Computer saß und nach geeigneten Häusern für Christian Connor suchte.
Es war neun Uhr, als sie Johnny zu Bett brachte und erschöpft, wie sie war, in ihr Schlafzimmer ging. Der vergangene Tag fühlte sich an wie ein ganzer Monat, und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so müde gewesen war.
Sie ging direkt ins Bad und zog sich aus. Während sie in einen bequemen Flanellschlafanzug schlüpfte, merkte sie, dass sie nicht nur körperlich müde war, sondern auch seelisch.
Sie wollte an nichts mehr denken. Ihr Bett lockte sie mit dem süßen Versprechen, alles vergessen zu können. Sie kroch unter die Decke, streckte die
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