Dunkelmond
wurde ihm die Ungeheuerlichkeit dessen bewusst, was Tarind nicht aussprach.
Dem Heermeister verschlug es den Atem. Er wollte auffahren, doch er und Tarind standen weit genug von den anderen entfernt, sodass er hoffen konnte, die Worte des Königs hätten sie nicht erreicht.
Er warf Ireti einen Blick zu. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, und es war klar, dass sie das dachte, was ihr Gemahl zum Ausdruck brachte. Telarion fragte sich unwillkürlich, ob sie seinem Bruder vielleicht die Worte eingegeben hatte.
»Prüfe dich«, murmelte Tarind. Seine Stimme blieb leise, doch sie war so drängend wie sein Blick. »Du brauchst zu lange, um diese Feuermagierin zu unterwerfen, das weißt du selbst. Undich weiß, dass es dir nicht möglich ist, sie zu zwingen, ohne dass du dich irgendwann selbst öffnest und ihr Zugang zu deiner Magie gewährst. Zu deiner Seele. … Oder hast du es gar schon getan?«
Erst jetzt fand Telarion seine Sprache wieder.
»Vanar hat dich nicht im gleichen Maße mit der Gabe des Lebens gesegnet wie mich oder unseren Vater«, gab er schneidend zurück. »Und so hast du vielleicht übersehen, dass es das Erste ist, was Heiler im Palast der Stürme lernen: ihre eigene Magie abzuschirmen, wenn sie sie anwenden. Ich verdiente es wahrlich nicht, Heiler der zweiten Ordnung genannt zu werden, wenn ich so schwach wäre, wie du sagst!«
Tarind musterte ihn nachdenklich, so als müsse er überlegen, ob er seinem Zwilling trauen konnte.
Telarion trat noch einen Schritt auf den König zu. »Sage mir, zweifelst du daran, dass niemand die Dunkle Magie, also das Verderben und den Tod, besser vernichten kann als ein Heiler, Bruder?«
»Die Gabe des Lebens ist in dir stärker als in mir, das weiß ich«, beeilte Tarind, sich zu versichern. »Doch …« Er zögerte.
Zorn wallte in Telarion auf und brachte den Luftwirbel in ihm zum Kochen. »Zweifelst du wieder an meiner Loyalität?«, presste er hervor.
»Nein«, erwiderte Tarind leise. »Nicht an deiner Loyalität.«
»Woran dann, Bruder?«
Niemand, der nicht direkt neben ihnen stand, konnte die Söhne des Dajaram noch hören.
»Ich zweifle an deinem Herzen«, wisperte Tarind schließlich. Seine Augen funkelten. Telarion konnte in der Dämmerung nicht erkennen, ob vor Zorn, aus Trauer oder Spott.
»Diese Feuermagierin hat es berührt, nicht wahr? Bisher blieb es kalt beim Anblick oder der Berührung einer Frau. Doch nun ist der Tochter des Siwanon gelungen, was die Frauen unseres Volkes vergeblich versuchten. Ist es nicht so?«
Telarion stockte der Atem bei diesen Worten. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück.
Dann sirrte die Klinge seines daikons durch die Luft. Die Waffe hielt nur wenige Fingerbreit neben der Kehle des Königs inne, der sich nicht gerührt und den Blick nicht abgewandt hatte.
Telarion atmete schwer. Beide Hände umklammerten das Heft des daikons so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
»Nur der ältere Sohn der Frau, die mich geboren hat, durfte das ungestraft aussprechen«, stieß der Fürst schließlich hervor. »Ihr Vater tötete meinen genauso wie deinen! Glaubst du, das könnte ich vergessen? Glaubst du …«
Telarion unterbrach sich und sah von seinem Bruder, der ihn nach wie vor unverwandt und prüfend musterte, wieder zu Ireti.
Auch sie wich seinem Blick nicht aus, aber ihre Miene war nicht zu deuten.
Telarion ließ das Schwert sinken und schob es mit einer abrupten Bewegung zurück in die Scheide. »Von der gleichen Mutter in der gleichen Stunde empfangen und in der gleichen Stunde geboren«, sagte er nach einer Pause mit hoch erhobenem Kopf. Er gab sich keine Mühe mehr, leise zu sprechen. »Was auch immer geschehen mag, ich werde an der Seite meines Bruders und Königs stehen.«
Es war ein Versprechen, das er weniger seinem Bruder als vielmehr sich selbst gab. Und doch hatte er das bittere Gefühl, dass es ihn zu einem Verräter machte.
Zum Verräter an allem, wofür er bisher gelebt hatte.
Kapitel 11
»Es waren die Menschen, die den zweiten großen Krieg zwischen den Kindern des Vanar und denen des Akusu auslösten. Denn sie waren verbittert, dass Syth dem Volk des Goldenen Mondes die Gabe verliehen hatte, ihnen die Lebenskraft zu nehmen. Die Kinder des Vanar waren sich dieser Überlegenheit bewusst und ließen das Volk des Akusu spüren, dass sie die Geschöpfe des zweitgeborenen Zwillings waren und damit unter ihnen standen. Und obwohl Ys diese Überheblichkeit missbilligte, quälten die
Weitere Kostenlose Bücher