Dunkelmond
roter Schleier über Telarions Gedanken. Diese Frau war so trotzig wie der Schmied und die Hure, die sein Bruder sich im Heerlager im Wald von Dasthuku ins Bett geholt hatte.
Trotzig wie die Tochter des Siwanon, die mit erhobenem Haupt vor ihm gestanden hatte und ihm trotz ihres zerlumpten Aufzugs mit Feuer in den Augen den Stolz und die Ehre des ältesten Hauses der Menschheit entgegenschleuderte und lieber Hand an sich legte, als sich ihm, dem Heiler, und seiner Gabe zu unterwerfen.
Und die mit ihrer Flucht alle Schönheit und alles Leben mit sich genommen und damit eine schreckliche Leere in ihm hinterlassen hatte, die sich so furchtbar anfühlte wie der Tod.
Nun, den Tod konnten diese Rebellen bekommen, wenn sie ihn so sehr herbeisehnten. Ohne ein weiteres Wort machte er eine umfassende Geste.
Ein plötzlicher Sturmwind kam über die Leute. Sie kauerten sich zusammen, drückten sich aneinander, während die eisigen Windböen ihnen mit einer Kälte, die sie in ihrem heißen Wüstenland nicht kannten, die Luft zum Atmen nahmen. Telarion sah durch die wirbelnden Eiskristalle, die er entfacht hatte, dass die Frau schluchzend den Dorn des Raqorbusches in den Körper des Säuglings bohrte. Ohnmächtig vor Zorn legte Telarion all seine Kraft in seine Luftmagie. Die Kälte und der Sturm würden dieses schmutzige, staubige und heiße Dorf reinigen, damit hier wieder Wasser und Leben einkehren konnten.
Syth, die Zerstörung und das Chaos, und Akusu, der Tod, durften nicht siegen. Der Goldmond war das Leben. Nicht Fanatiker wie diese oder die Tochter des Siwanon, die ihr Dorf, ihr Leben und das ihrer Kinder opferten, nur weil sie ihn und seinen Bruder verachteten! Er verstärkte den Sturm, sodass sich selbst seine Soldaten die Arme vor die Augen legen mussten, damit sie von den stürmischen Eissplittern nicht geblendet wurden.
»Zerstört das Dorf und übergebt es den Pflanzen!«, schrie Telarion. »Nichts soll übrig bleiben und daran erinnern, dass es existierte!« Er riss sein Pferd herum und galoppierte davon.
Die Schreie der Dörfler verstummten irgendwann. Nur ein glasklarer, in der Sonne dampfender und glitzernder Eisberg blieb übrig. Er würde erst verschwinden, wenn Telarions Zorn verraucht war.
Eine kalte Windbö traf Sinan im Rücken.
Er wirbelte herum.
Er und Mojisola hatten das Dorf erst vor ein paar Stunden, kurz nach Aufgang der Weißen Sonne, verlassen, nachdem ein Hirtenjunge herbeigelaufen war und die Dorfbewohner vor einem Trupp elbischer Reiter warnte. Sie hatten einen ganzen Tag dort Rast gemacht, denn das Dorf hatte keinen eigenen Schmied, und so hatten er und Mojisola beschlossen, mit Schmiedearbeiten Nahrung und Obdach zu bezahlen.
Sinan wäre gern länger geblieben. Die Reise durch die trockene und heiße Savanne Entarats war nicht leicht. Doch die Nachricht, dass sich Elben dem Dorf näherten, hatte die beiden Schmiede veranlasst, rasch weiterzuziehen. Sie wollten nicht den Anlass geben, um die freundlichen Dorfbewohner der Rache der Elben auszusetzen.
Er und sein Gefährte waren bereits weit den Hang hinaufgekommen. Sie wussten, Reiter würden ihnen nicht hier herauf folgen können; der Felsgrat, der die endlose Wüste von Solife von der roten Savanne trennte, war nicht mehr weit entfernt. Zudemwar der Hang voller Buschwerk und Felsen, hinter denen man sich gut verstecken konnte. Es war unwahrscheinlich, dass man sie hier entdeckte.
Die Bö, die Sinan erfasste und ihm wieder die Spinne der Furcht vor den Kindern des Vanar in den Nacken setzte, war nicht wirklich kalt, aber deutlich kühler, als es eine Bö, die aus dem heißen Tal den Berghang hinaufwehte, hätte sein dürfen. Entarat war keine Wüste, und doch kam es hin und wieder vor, dass die öde und trockene Erde von einem Sandsturm aufgewirbelt wurde.
Doch diese Winde waren, auch wenn sie von Nordosten wehten, wo kein Gebirge den Weg versperrte, nie so kalt wie der Atem der Eisebenen von Kantis. Solche Böen konnten nur von Elben selbst stammen.
Sinan wandte sich um und spähte ins Tal hinab. Er konnte das Dorf weniger sehen als unter einer Ansammlung von Paranibäumen erahnen, die ihre breiten Äste mit den harten, staubigen Blättern über die Hütten ausbreiteten und in der Hitze des Tages den nötigen Schatten für die Bewohner spendeten. Das weißliche, wie Watte aussehende und süßlich schmeckende Fruchtfleisch der Paranischoten war den Hirten eine willkommene Abwechslung bei ihren Mahlzeiten.
Die Weiße Sonne
Weitere Kostenlose Bücher