Dunkelmond
die meisten hatten verlernt, solche Baumpaläste zu bauen. Selbst der Hauptzweig der Familie der Norandar hatte sich in Bathkor niedergelassen, im Zentrum der Welt, um besser herrschen zu können.
Während sie zwischen den Stämmen herging, erinnerte sich Sanara an die Bauweise der Festung Bathkor. Auch wenn sie als Zugeständnis an das Volk Akusus in den Felsen gehauen war, gab es überall zierliche Türme, Terrassen und Brücken, die Gebäudeteile miteinander verbanden und die an Bäume erinnerten. Selbst dicke Wände waren oft durch filigrane Muster durchbrochen, damit Luft und Regen die dort in der Festung wohnenden Herrscher erreichen konnten.
Die Könige der Elben kamen, so erzählte man sich, nach dem Worte der Ys aus dem Geschlecht der Norad, daher waren sie schon vor Jahrhunderten aus den Wäldern am östlichen Fuß des Zendar-Gebirges an die Mündung des Sorinas in den Lithon gezogen. Dort, ungefähr in der Mitte Vyranars, hatten sie Bandothi gegründet. Nur die Sippe der Hohepriester des Lebens lebte noch in der luftigen Stadt Darkod, die sich in der Nähe des Palasts der Stürme befand, in dem die Elben ausgebildet wurden, die die Gabe des Lebens und des Heilens besaßen.
Im Qentar-Hochwald von Dasthuku lebten heute nur noch wenige Elben. Die Landari waren unter den Ersten gewesen, die seinerzeit in die Ebenen und Gebirge zu den Menschen gezogen waren und sie darin unterwiesen hatten, die Früchte der Pflanzen zu nutzen. Doch bis heute wagten sich Menschen nicht ins Herz des Waldes, die Qentarbäume waren, so weit von den Ebenen der Länder Barat und Guzar entfernt, zu groß und zu mächtig, um von Menschen gefällt zu werden; und es war zu grün und zu feucht, als dass sich das Volk Akusus wirklich hätte wohlfühlen können.
Ronan sprach nur wenig mit ihr. Meist ging er langsam vor ihr her und sang seine Lieder. Es waren Gesänge von der Entstehung der Welt, von den Gaben, die Ys und Syth gerecht unter ihren beiden Zwillingskindern aufgeteilt und die diese jeweils an ihr Volk weitergegeben hatten. Manchmal handelten sie auch von der Freude Akusus über seine Gaben, dem Sommer, dem Herbst, den Strahlen der beiden Sonnen, der kargen Erhabenheit der pflanzenlosen Wüste, dem Licht des Feuers und der Wärme und Trockenheit der Erde, die Edelsteine von leuchtender Schönheit barg.
Wieder einmal konnte Sanara sehen, wie die Töne, die Ronansang, die Realität durchdrangen. Wie kaum sichtbare Bänder aus gelben, roten und schwarzbraunen Funken wehten sie hinter ihm her und hüllten ihn und Sanara in einen schützenden Kokon, der im Grün des Waldes wie ein Fremdkörper wirkte.
Sie wusste, sie hätte den schweren, süßlichen und an Verwesung erinnernden Blütengeruch, der die Luft durchdrang und den Ronans Gewebe aus Gesang nicht fernhielt, verachten müssen. Früher hatte sie den Würgereiz unterdrücken müssen, wenn sie in einen Wald geraten war. Es war nicht oft vorgekommen, doch immer war Sanara froh gewesen, wenn sie wieder eine Stadt, eine Gegend erreichte, in der nicht die Pflanzen alles beherrschten.
Doch nun war das anders. Ronans Töne hielten die goldene Macht, die die Luft durchdrang, von ihr und ihm selbst fern. Aber immer wieder ertappte Sanara sich dabei, wie sie wünschte, die kaum sichtbaren roten und orangenen Nebelfahnen, die sie immer wieder zärtlich zu berühren schienen, würden verschwinden.
Sie wusste, das entsprang nicht ihrer eigenen Sehnsucht, sondern der grünen Magie, die der Zwilling des Königs in ihr hinterlassen hatte. Und sie verschwand auch nicht, obwohl sie sich jeden Tag ein Stück weiter von Telarion Norandar entfernte.
Endlich frei zu sein hätte Freude in ihr auslösen müssen, doch je weiter sie sich vom Heermeister der Elben entfernte, desto größer wurde das Gefühl des Verlusts in ihr. Sie hatte die grüne Magie in sich – seine Magie – am Lithon willkommen geheißen, beschlossen, sich nicht mehr dagegen zu wehren. Der Fährmann hatte gesagt, es sei ein Geschenk der Ys, und wie hätte sie das wunderbare Gefühl vergessen können, das Telarion Norandars Nähe in ihr ausgelöst hatte, die kühle Frische eines Frühlingsmorgens, die ihr hitziges Feuer beruhigte!
Doch jeder Schritt, der sie weiter nach Norden brachte, verstärkte das Gefühl, bewusst das Geschenk, das der Schöpfergeist ihr hatte zuteilwerden lassen, ein Stück weiter von sich zu stoßen.
Der Wunsch, die dunklen, rotorangenen und buttergelben Schwaden, die Ronans Gesang entsprangen,
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