Dunkelmond
zu zerreißen undsich durch das schillernde Grün des Laubs bis zu den sich hoch oben im endlosen Türkis des Himmels wiegenden Wipfeln aufzuschwingen, brach immer wieder hervor, so als wehre sie sich insgeheim, die Verbindung zum Zwilling des Königs zu lösen. Dann fühlten sich die roten, gelben und dunklen Funkenbänder an, als wollten sie fesseln statt schützen. Es blitzten flüchtige Erinnerungen an ein Hochgefühl auf; daran, auf einem Berggipfel oder dem Wipfel eines der höchsten Qentarbäume der Welt zu stehen, und der Wald erstrecke sich wie ein samtiger Teppich zu ihren Füßen über Hügel und Täler bis zum fernen Horizont. Nur der weite, blaue Morgenhimmel war noch über ihr. Grenzenlose Freiheit, wie kein Kind des Akusu sie je gespürt hatte, kam mit den Bildern der Erinnerung in ihr auf, sie fühlte Wind, der ihre Haare durchwühlte, Luft, die umwirbelte, prickelte und belebte wie leichter Wein.
Es beschämte sie, dass sie diese immer seltener werdenden Bilder zu lieben begann und sie schließlich von Zeit zu Zeit sogar selbst herbeirief. Es waren Erinnerungen, die nicht von ihr stammten, Bilder aus einem Leben, das nicht ihres war und doch beneidenswert.
Sanara wusste, die Bilder stammten vom Zwilling des Mannes, der ihren Vater ermordet hatte, und das war es, was sie vielleicht am meisten beschämte.
Als sie an diesem Abend anhielten, war der Wald still. Die Blutstunde ging zu Ende, im schwächer werdenden Dämmerlicht flocht Ronan im Schatten eines Qentarbaums aus den Wedeln zweier Goldfarne ein Dach, sodass eine Art kleine Hütte entstand. Am Kopfende sorgte die Wurzel eines Qentars dafür, dass man nicht sofort in den Unterschlupf hineinsah. Vorne tarnte er die kleine Höhle sorgfältig mit ein paar jungen Königsfarnen, die er ausgegraben hatte.
Sanara und er hatten über den Tag hinweg Kräuter, Nüsse und Früchte gesammelt, die jetzt als Nachtmahl dienten.
»Viel Wasser haben wir nicht mehr«, sagte Sanara und schüttelte den Wasserschlauch. »Hoffentlich kommen wir morgen zu einer Quelle.«
Ronan nickte. »Wir sind unserem Ziel schon nah. Der Mondsee ist nicht mehr weit. Wenn wir Glück haben, erreichen wir morgen den Eingang des Tunnels, der uns in den Grünen Turm bringen wird. Dort können wir vorerst bleiben und uns ausruhen. Zu den Weisen ist es dann nicht mehr weit.«
»Der Mondsee«, sagte Sanara nachdenklich. »Wir sind weit gekommen.«
Ronan lächelte. »Drei Zehntage ist es her, dass wir geflohen sind. Es ging schneller, als ich dachte.«
Sanara lachte leise. »Dachtest du, du müsstest mich tragen?«
»Das nun nicht«, sagte er amüsiert. »Aber die Magie in diesem Wald ist sehr stark. Sie schwächt Menschen, besonders, wenn ihre Magie so stark und rein ist wie deine.«
Er hielt inne.
Sanara nickte düster. »Du weißt sehr gut, dass meine Magie nicht mehr rein ist«, sagte sie. »Und deshalb werde ich es bis morgen aushalten, nichts mehr zu trinken«, fügte sie betont heiter hinzu.
»Das ist gut!«, erwiderte er erleichtert. »Zwar könnten wir die Wurzelknollen der Goldfarne öffnen, in denen ist immer Wasser, das die Pflanzen speichern. Aber hier im Herzen des Waldes wäre das nicht klug.«
Sanara sah ihn groß an. »Du glaubst, dass die Bäume dir eine Verletzung übel nähmen?«
»Sie sind Lebewesen. Sie würden auch ein Feuer übelnehmen. Deswegen sollten wir hier ja auch keines entzünden. Ich würde an diesem Ort nichts tun, was die Pflanzen beunruhigt, denn der Wald gehört ihnen. Der Raqor kam uns heute immer wieder sehr nah. Ich hatte sogar den Eindruck, dass selbst mein Gesang ihn nicht beeindruckte. Doch er hat uns nicht angegriffen.« Er sah sie liebevoll an. »Sie wissen, dass deine Feuermacht sie auf der Stelle vernichten könnte, vielleicht hat sie das abgehalten.«
Sanara nahm sich noch eine der großen Reka-Früchte und ging nicht auf Ronans Worte ein. Sie konnte sich denken, warum der Raqor ihnen immer wieder zu nahe gekommen war und sie doch nicht angegriffen hatte. Er spürte nicht die Feuerkraft in ihr, sondern die Windmagie, die ihre Seele durchdrang.
»Ich verabscheue diesen Wald wie die grüne Magie in mir«, sagte sie und vermied es, Ronan bei dieser Lüge anzusehen. »Er ist zutiefst elbisch und nicht für Menschen gemacht. Bist du sicher, dass es keinen anderen Weg zu den Weisen gibt?«
Ronan sah sie nachdenklich an, antwortete aber nicht. »Bereust du deine Entscheidung?«
Sanara biss wieder in den Reka-Apfel und kaute
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