Dunkelmond
nächtlichen Lagerfeuers.
Es fühlte sich gut an. Es konnte nicht falsch sein.
»Das war zu schnell, Harumad! – Es tut mir leid, meine Schöne«, wisperte eine warme Stimme in ihr Ohr. Dann begann Ronan leise zu singen.
Ihre Muskeln entspannten sich, und langsam spürte Sanara, wie die Kraft in ihre Glieder zurückkehrte. Sie schmiegte sich enger an die Brust des Musikanten.
»Was hast du erwartet? Ihr fehlt die Übung«, sagte eine nüchterne Stimme im Hintergrund.
Sanara erkannte sie. Es war Harumad, der Anführer jener Menschen, die sich hier im Grünen Turm der Landari-Elben niedergelassen hatten. Doch er war auch einer, den man zum Shisan des Westens geweiht hatte und der deshalb Ronan und ihr geholfen hatte, heute in die Jenseitigen Nebel zu gehen.
Seit einem halben Zehntag war sie nun im Turm und konnte den Frieden genießen, der hier herrschte. Die Elben der königlichen Garnison waren an Land und verbargen sich aus Furcht vor den Menschen, die in diesem Turm lebten.
Immer noch war Sanara fasziniert von dem Gebäude. Der Grüne Turm war von den Menschen einst zur gleichen Zeit wie Bandothi gebaut worden und hatte sowohl Elben als auch dem Volk des Dunkelmonds als Heim dienen sollen. Und so war es mehr eine Stadt als nur ein Palast.
Von fern glich er einem schlanken Dorn aus grün geädertem Marmor, der wie ein Baum eine Krone trug. Zu dieser Krone führten viele Treppen, die sich um den eigentlichen Turm herumwanden und immer wieder auf Zwischenebenen anhielten. Überall hatte der Turm, der höher war als jeder Qentar, astartige Auswüchse, die aus weiteren Türmen, Erkern und Balkonen bestanden. Schlanke, geschwungene Steinbrücken führten von einem Erker zum anderen und zu den kleineren Türmen, die das Hauptbauwerk umgaben.
Doch erst, seit sie hier lebte, konnte sie die wahre Schönheit des Gebäudes erfassen. Drei Tage hatte sie damit verbracht, die Erker und Brücken zu erkunden, jedes Detail: florale Muster an den Brüstungen, den Balkongeländern, den Fensteröffnungen, marmorne Ranken und Triebe, die im Maßwerk begannen und sich auf den Mauern als Relief fortsetzten und so endlos erschienen.
Der Turm schien greifbar gewordene Pflanzenmagie zu sein und bestand doch aus Marmor, der Gabe der Erde. Die schier endlosen Stufen hinauf zur Spitze verzweigten sich, strebten vomTurm selbst weg, schwebten viele Klafter weit frei über dem Wasser, wurden zu Brücken, so schmal, dass kaum zwei Elben oder Menschen nebeneinandergehen konnten, und schwangen sich wieder zurück zum Hauptturm und bis hinauf zur Krone.
Obwohl das Bauwerk eindeutig ein elbisches war, konnte es nur mit Hilfe von Erdmagiern geschaffen worden sein. Nur Meister der dunklen Magie vermochten den Marmor so vollendet zu formen.
Nun saß Sanara hier, in einem der vier heiligen Räume des Turms, und musste sich eingestehen, dass ihr Versuch, das Siegel zu bergen, gescheitert war.
»Hast du sie nicht schreien gehört?«, sagte Harumad jetzt. »Ich musste sie zurückholen, schnell.«
Ronan unterbrach sein Lied. »Ihre Kraft ist groß genug!«, erwiderte er. »Sie muss sie nur wiederfinden und die Windkraft, mit der der Bruder des Königs sie geschlagen hat, überwinden!«
Sanara richtete sich auf und schob ihn sanft zurück. Sie sah zu Harumad, der vor der östlichen Wand saß und sie nachdenklich musterte.
»Es war nicht mangelnde Kraft, die mich in den Nebeln straucheln ließ«, sagte sie und hörte erleichtert, dass ihre Stimme nicht zitterte.
Harumad machte eine versöhnliche Geste mit der Hand. »Das mag sein. Deshalb sagte ich auch, es fehlt dir an Übung, nicht, dass du es nicht kannst.« Er sah Sanara ernst an. »Ich muss mit dir sprechen.« Mit einem Seitenblick auf Ronan fügte er hinzu: »Allein.«
Ronan wollte aufbegehren, doch Sanara legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich bin einverstanden.«
Ronan stand auf und sah den Shisan zornig an. Er schien noch etwas sagen zu wollen, doch dann wandte er sich zu Sanaras Erleichterung ab und ging. Sein Unwille, sie allein zu lassen, lag spürbar in der Luft, auch wenn er die Bitte des Priesters respektierte.
Harumad streckte die Beine aus und sah sie nun unverwandt an.
Eine Weile war es still.
»Er ist in dich verliebt«, sagte Harumad schließlich.
Sanara senkte den Blick, doch sie antwortete nicht. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie kannte die Gefühle des Musikanten für sie. Sie mochte ihn und genoss seine Nähe. Aber als Harumad es aussprach, klang es wie
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