Dunkelmond
sie herum.
Er wirkte lebendig, griff nach ihr und strich über ihre Haut, als neide er ihr das Leben.
Die öde, düstere Landschaft hinter den dichten, grauen Schwaden war kaum zu sehen.
Gerade noch war Sanara im Heiligtum des Akusu gewesen, im Grünen Turm der Landari-Elben, jetzt war sie auf den Jenseitigen Ebenen.
Der Eindruck von vielen Stimmen, von Klagen und Flehen lag in der Luft, auch wenn nichts zu hören war. Nur die Töne einer Flöte, deren rote Lichtbänder sich durch einen Äther woben, dem jedes Aroma und jede Bewegung fehlte. Sanara wusste, irgendwo am Ende dieser Bänder, die sie noch enger umschmeichelten als die Nebel und sie mit der diesseitigen Welt verbanden, stand Ronan. Doch er war nicht mitgekommen.
Sie stand allein in der Ödnis. Nur die Melodie seiner Flöteknüpfte sie hier in der Leere an die geschaffene Welt. Und das Lied, das sie sang und das nicht unterbrochen werden durfte und ganz ohne Worte auskam.
Die Nebel wurden dichter.
Sanara wusste, sie hatte die Macht, den Nebeln zu gebieten. Die Macht, sich selbst eine Gestalt in dieser Welt zu formen und die Nebel fortzuschicken. Es lag in ihr.
Doch sie wirbelten, brodelten, tanzten um sie herum.
Sie stahlen ihr Wärme. Nicht, wie die Elben es taten. Es war, als weiche das Leben aus ihr, als würden die gelben Funken, die sie mit ihrem Gesang beschwor und die einen Schild um sie bildeten, schwächer.
Sanara drehte sich verzweifelt um sich selbst, um den langen, zerfasernden Fingern der Nebel zu entkommen. Sie brauchte ihre Kraft selbst, um nicht den Strang des wortlosen Lieds zu verlieren, und durfte nichts abgeben. Sie war nicht hier, um die Seelen zu leiten, und wenn sie noch so flehentlich darum baten.
Sie war auf der Suche.
Das Siegel ist sowohl in dieser Welt als auch in der Leere, in der Syth lebt. Wenn dich jemand im Leben hält, kannst du es im Jenseits finden. Die Macht liegt bei dir.
Sie nahm sich zusammen. Der Älteste des Abend-Klosters hatte gesagt, dass sie das Lied aus dem Herzen heraus singen müsse, um die Nebel der Toten zu vertreiben. Auch wenn die Kinder des Vanar das behaupteten, es war ein Lied des Lebens, nicht des Todes.
Sanara schloss die Augen und konzentrierte sich nur noch auf die Kadenzen der Melodie, die Akusu persönlich einst die Menschen gelehrt hatte, und befahl so den Toten, zu gehen.
Langsam, beinahe widerwillig wichen die Nebel zurück und machten ihr ein wenig Platz. Doch immer noch strichen sie hier und da über ihren darstan , ihre Wangen und Arme.
Hin und wieder tanzten Funken paarweise in den undurchsichtigen Schwaden, lodernd gelb, düsterrot, manchmal auchhimmelblau oder laubgrün – der schwache Abglanz der lebendigen Magie, die allen Wesen der geschaffenen Welt innewohnte und die in der Leere jenseits dieser Welt keinen Bestand hatte. Sie leuchteten auf, als verleihe eine Berührung mit ihr dem Nebel hier und da flüchtiges Leben, doch verloschen wieder, als neue Schwaden an sie herandrängten.
Sanara ließ ihren Gesang in die Melodie übergehen, die Ronan sie im letzten Zehntag gelehrt hatte. Das Lied, das die Funken ihrer Lebensenergie dazu bringen würde, ihr das Siegel zu zeigen.
Der Nebel wurde dünner und dünner.
Mit steigendem Selbstvertrauen begann sie, sich umzusehen. Immer noch waren keine Formen, keine Landmarken, Felsen, Täler oder Berge zu sehen, und doch schien der Boden unter ihr fest zu sein. Dort, wo man auf einer Ebene einen Horizont erwartet hätte, hinter den wirbelnden Nebelschwaden, schien es heller zu werden. Doch die Konturen waren noch unscharf.
In dem ewigen Grau, das alles Licht und alles Lebendige zu verschlingen schien, erschienen plötzlich zwei violette Funken. Der Nebel, der diese Funken aus Magie trug, kam näher, nahm Gestalt an, statt sich wie die anderen zurückzuziehen.
Sanara wich zurück. Die Gestalt war die eines Menschen in schlichtem Gewand und mit langen dunklen Haaren, die von einer unfühlbaren Brise verweht wurden.
Ich habe dich gesucht, Feuermagierin. Wie gut, dass du das Lied des Siegels nun singen kannst, so konnte ich dich hier finden. Doch ich sehe, du vermagst es nicht allein. Eine Kraft bindet dich ans Leben.
Sanara erstarrte. Für einen Augenblick stockte das Lied der Ys. Dann erinnerte sie sich der Warnung: Beende nie den Gesang.
Sie erhob wieder die Stimme, doch sie hatte die Töne vergessen, die ihre Essenz auf die Suche nach dem Siegel schicken sollten, und begann wenigstens erneut mit der Melodie des wortlosen
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