Dunkelmond
eins.«
Sanara starrte Harumad an. »Willst du damit sagen, Ys gab mir die Liebe ein?«
Der Shisan zuckte mit den Achseln. »Liebe entsteht, wenn wir im anderen sehen, was wir nicht haben. Es fasziniert uns und zieht uns unwiderstehlich an. Ich bin sicher, dass Ys nichts eingab, was nicht schon vorhanden war. Sie ordnet und sorgt für Klarheit da, wo in uns lediglich Aufruhr ist. Ihr könnt es nur zu zweit tun. Ys’Segen kann eine Last sein. Und doch schenkte sie dir die Einsicht, dass du nur mit diesem Elb ein vollständiges Wesen sein wirst, und so wird dir die Aufgabe, die vor dir liegt, keine Last sein, sondern vielleicht das Schönste, was du je auf dich nehmen wirst.«
Harumad lächelte, als er Sanaras Zweifel erkannte. »Sicher hat der Heermeister Eigenschaften, die dir gefallen.«
»Die Kraft der Beherrschung«, murmelte sie.
»Wer zu viel Feuer hat, sehnt sich nach Kälte – das ist eine alte Weisheit«, sagte Harumad.
»Ich trage nun beides in mir.«
Der Shisan legte nachdenklich den Kopf schief. »Das glaubt Ronan auch, daher wollte er heute versuchen, das Siegel zu finden und zu bergen. Er glaubt, es reiche, wenn du es versuchst und er dich bindet. Doch du bist nicht ausgebildet.«
»Nein«, sagte Sanara. Sie dachte an die Nebel zurück. An diesen seltsamen Horizont, daran, dass sie plötzlich geglaubt hatte zu wissen, dass dort das Siegel sei.
Dann fiel ihr der Geist wieder ein. Sie erzählte Harumad davon.
Er schwieg und dachte nach. »Du hast recht«, sagte er schließlich. »Ich halte es für wahrscheinlich, dass du es dort finden kannst. Doch nicht allein. Und auch nicht mit Ronan.«
Er machte eine Pause. »Deine Ausbildung hätte noch Jahre weitergehen müssen. Es reicht nicht, das Lied zu singen, mit dem man in der Leere Wesen und Gegenstände finden kann. Man muss es in Verbindung mit Goldener Magie tun, und das kann dir weder Ronan zeigen noch ich. Du darfst nicht hierbleiben. Du musst fort, ins Kloster der Quelle, dort, wo die Weisen sind. Ob sie dir helfen können, weiß ich nicht. Noch nie hörte ich davon, dass sie eine Schülerin aufnahmen, die nicht schon von einem der Monde gezeichnet war und somit die erste Prüfung bestanden hatte. Und doch wirst du es versuchen müssen.«
Sanara nickte langsam. Es tat ihr leid, den Turm der Elben schon so bald verlassen zu müssen. »Ich wünschte, ich könnte hierbleiben.«
Harumad lächelte ein wenig wehmütig. »Das wäre selbst dann nicht möglich, wenn Ronan recht hätte und er derjenige wäre, der dir helfen könnte, das Siegel in den Nebeln zu finden.«
»Und wieder hatte Ronan recht – ich hätte diese beiden Elben nicht töten sollen«, sagte sie düster.
Harumad winkte ab. »Das ist es nicht. Es war dumm von diesen Männern, euch anzugreifen. Viele von uns fielen ihnen schon zum Opfer und umgekehrt. Nein, deshalb allein würde ich dich eher hierbehalten wollen. Doch ich gestehe, dass ich diesen Geist fürchte, den du getroffen hast. Du sagtest, er hatte violette Augen und lange, dunkle Haare?«
Sanara nickte. »Der Heerführer.«
»Nein«, widersprach Harumad sofort. »Es ist allgemein bekannt, dass der Heerführer die Haare kurz geschnitten trägt.«
»Ein Seelenbild entspricht der Vorstellung, die wir von uns selbst haben«, wiederholte Sanara das, was sie vom Ältesten des Abend-Klosters am Saphirmeer erfahren hatte. »Was, wenn der Heermeister dieses Bild von sich hat?«
Wieder schüttelte Harumad den Kopf. »Du sagtest gerade, die Magie dieses Wesens sei violett gewesen. Ich weiß nicht viel vom Zwilling des Königs, doch es heißt gemeinhin, dass er sich selbst als Heiler und Hüter des Lebens versteht. Man sagt, dass er seine Kunst niemandem verweigert. Deshalb die kurzen Haare. Bei den Shisans des Ostens, im Kloster des Morgens und dem Palast der Stürme ist eine solche Haartracht das Zeichen, dass man sich dem Leben und der Gerechtigkeit verschrieben hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das tut und sich doch dem Syth ergibt.«
»Eine Lüge würde zum Schöpfergeist der Unruhe und des Chaos passen.« Sanara war nicht überzeugt.
Harumad zuckte mit den Achseln. »Wer auch immer dieses Geschöpf sein mag, ich bin fast sicher, dass es nicht der Zwilling des Königs ist. Doch mir bereitet Sorgen, dass es zu wissen glaubt, wo du – seine Feindin – dich aufhältst. Ich weiß ungern die Macht des Syth gegen mich.«
Ronan saß auf der Balustrade eines der unzähligen Balkone des Grünen Turms, die nach Osten
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