Dunkelmond
ein Vorwurf.
Sie suchte nach Worten, doch Harumad kam ihr zuvor.
»In dir ist Windkraft. Ronan sagt, der Zwilling des Königs habe versucht, dich zu unterwerfen, und dies seien sozusagen die Reste seiner Bemühungen. Doch es ist anders, habe ich nicht recht?«
Sanara schluckte. Wieder fand sie die passenden Worte nicht.
Wie hätte sie auch sagen sollen, was sie mit dem Zwilling des Königs verband? Sie redete es sich schön, indem sie sich vormachte, es sei ein Geschenk der Ys. Doch ihr Verstand sagte ihr, dass Telarion Norandar bei aller Heilmagie grausamer und kälter war als der König selbst.
Was sie diesem Elb tief im Inneren vorwarf, war Verrat. Verrat an den Menschen, ihrem Volk, am Dunklen Mond, an ihrer Familie. An Harumad. Und besonders an Ronan, der, wie der Shisan meinte, in sie verliebt war.
Und doch vermisste Sanara den Zwilling des Königs, mehr als noch in den Bergen, mehr noch, als zu Beginn der Reise, und ihr war, als habe man ihr ein Stück ihrer Selbst herausgerissen, als sie von ihm fortging.
Erst heute hatte sie auf einer der höchsten Brücken des Grünen Turms gestanden, viele Klafter über dem klaren, blaugrünen Wasser. Die Weite des Ausblicks hatte ihr Auge beinahe überfordert, doch als ihr schwindelte und sie taumelte, war eine leichte Brise aufgekommen, wie um sie zu stützen.
Mit dem leichten Wind war dieses Gefühl wiedergekehrt, das nicht aus ihr selbst zu kommen schien – grenzenlose Freiheit. Der Wind hatte sie kühl umschmeichelt, liebkost und mit einerLebendigkeit erfüllt, die sie nur einmal zuvor erlebt hatte – im Heiligtum der Ys. Als sie den Zwilling des Königs in den Armen gehalten hatte.
Doch er war nicht hier.
Er konnte wohl nicht ertragen, dass du von ihm fortgingst. Und so wandte er sich nach Süden und hatte nur den einen Wunsch im Herzen – dich zu finden.
Wenn es stimmte, was der Geist gesagt hatte, war sie jetzt weiter von Telarion Norandar entfernt als je zuvor in ihrem Leben. Der Gedanke schmerzte.
Für einen Augenblick musste sie die Augen schließen, denn die Sehnsucht nach dem Zwilling des Königs fegte durch sie hindurch wie die plötzliche kalte Sturmbö vor einem Gewitter.
Dann wurde sie sich wieder bewusst, dass es Nacht war, und sie im Heiligtum des Dunklen Mondes saß. Harumad betrachtete sie immer noch, als wüsste er, was in ihr vorging.
»Der Heerführer wollte mich töten«, sagte Sanara nach einer langen Pause und drängte bei der Erinnerung an diesen Moment die Tränen zurück. Der Fürst hatte sie so erschreckt, als er sich über sie beugte und seine Hände auf sie presste.
Und nun hätte sie alles dafür gegeben, dass er es wieder tat. »Er packte mich und entfachte in mir einen Sturm aus Eis, der mich töten sollte. Er wollte meinen Tod mit aller Macht, die er besitzt. Doch …« Sie unterbrach sich. »Doch dann kam es anders. Ich lebte weiter. Seitdem … seitdem ist mir, als trüge ich ein Stück seiner Magie in mir.«
Harumad stutzte. »Ich habe noch nie gehört, dass sich eine Dunkelmagierin gegen einen Magier des Lebens durchsetzen konnte, wenn dieser töten wollte«, sagte er. »Wenn es wirklich so war, dann bist du wahrlich stärker als alle, die ich kenne!«
»Nicht ich war es, die sich wehrte«, stellte Sanara klar. »Ich glaube, dass es Ys war, die mir half und die Telarion Norandar ein Stück seiner Magie nahm, um es mir einzuverleiben. So, wie sie mir ein Stück nahm, das nun in ihm lebt. Ich werde die Magiedes Windes nie wieder aus mir herausreißen können, ohne eine Wunde zu hinterlassen, die meine eigene Magie ausbluten ließe. Ich würde sterben.«
Harumad schwieg lange.
»Darum ist der Kern deines Seelenbildes silbergrün. Darum besitzt die Sonnenechse auf deiner Brust nicht mehr nur rote und goldene Schuppen«, sagte er schließlich. »Ys hat dich gesegnet.«
Er stand auf und ging langsam ein paar Schritte hin und her und blieb dann neben dem Maßwerk der nördlichen Wand stehen. Er sah auf den See hinaus in Richtung der Berge und schien zu überlegen, was er mit dem, was Sanara ihm gesagt hatte, anfangen sollte.
Ihr eigener Blick fiel auf die östliche Wand. Die Figuren, die dort zu erkennen waren, schienen durch das Licht der drei Monde lebendig zu werden. Sie hatte bisher nur flüchtig gesehen, was die kunstvollen Malereien darstellten. Als sie jetzt wieder hinsah, schien sich die schlanke Frauengestalt, die am oberen Ende des Gemäldes am Fuß eines schneebedeckten Berges vor einer Art See saß,
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