Dunkelmond
das kann ich nur mit deiner Hilfe erreichen, Bruder!«
Iram nahm in einem der Sessel Platz und ließ nachlässig ein Bein über die Lehne baumeln. »Das Heiligtum des Syth liegt mitten in der Wüste von Solife. Ich bin sicher, dass der Zaranth mit ihm im Bunde steht. Und sowohl Ihr, mein König, als auch Ihr, Telarion, wisst, was das bedeutet. Es geht nicht um reine Gebietsansprüche. Hier geht es um mehr.«
Tarind schwieg.
Es war sein Bruder, der antwortete. »Der Tod und die Macht über die Seelen sind Gaben, die die Menschen über ihren Schöpfer Akusu, den Dunklen Mond, erhielten«, murmelte Telarion, als wiederhole er eine der Lektionen, die er als Adept des Vanar gelernt hatte. »Diese Gabe stammt nicht von Ys, sondern von ihrem Geliebten Syth, dem Schöpfer von Chaos, Zerstörung und Veränderung. Um Zwietracht zu säen, schenkte Syth allen Dingen, die Ys geschaffen hatte, einst die Gabe, zu sterben, und machte den Dunklen Mond, seinen Sohn, zum Herrscher darüber. Die Gabe des Lebens kam von Ys. Und die Völker haben keinen Anteil an der Gabe des jeweils anderen.«
»Die Gabe des Todes darf nicht herrschen«, rief Tarind und ballte seine Schwerthand zu einer Faust. »Das musste ich Dajaram versprechen, bevor er starb.«
Telarion verkrampfte sich unmerklich. Er war ein Herr des Lebens, doch nun sah es so aus, als müsse er seinem Bruder weiterhin als Heermeister und als ein Krieger des Todes dienen. Er fragte sich, ob das dem Rat der Fürsten klar gewesen war, als er Tarind das Versprechen abverlangte, nicht ohne seinen Bruder zu regieren.
Was der Tod war, wusste Telarion nicht, aber er wusste genau, was das Leben in dieser Welt war: die Seele und Magie, die jedem Lebewesen der Schöpfung innewohnte und die ihm als Heiler der zweiten Ordnung sichtbar und greifbar war wie das Hemd, das er trug. Der Tod beendete dieses Wunderwerk und löschte es unwiderruflich aus. Vernichtete die Seelen, so, wie die Seele seines Vaters vernichtet worden war. Der Tod bedeutete das Ende. Eine Lücke, eine Leere entstand dort, wo es eine Seele nicht mehr gab und wo sie ihren Beitrag zum Leben nicht mehr leisten konnte.
Doch die Menschen fürchteten den Tod nicht. Telarion hatte sich schon oft gefragt, warum das so war. In seiner Ausbildung hatte man ihm erklärt, die Menschen wüssten dank der Seelenherren, was die Seele nach dem Tod erwarte. Das gebe ihnen Sicherheit auch im Leben.
Die Sicherheit eines Schmieds etwa, der dem Befehl des Heermeisters nicht folgte, ohne eine Gegenleistung zu fordern. Die Sicherheit einer Hure, selbst vor dem, der sie verachtete und missbrauchte, aufrecht zu stehen und einen Hinweis des Heermeisters in den Wind zu schlagen.
Vielleicht ist es das, was uns Elben Angst macht , dachte Telarion. Der Umstand, dass das Volk des Akusu weiß, was nach dem Tod kommt, und wir nicht.
Doch dann schüttelte er diesen Gedanken unwillig ab.
Der Tod, die Vernichtung, durfte die Schöpfung nicht beherrschen. Er durfte nicht wie ein drohendes Verhängnis über allem schweben, was lebte – und er, Telarion Norandar, hatte als Priester des Lebens dafür zu sorgen. Es war seine Pflicht.
Das Heiligtum des Syth gehörte in die Hände des Hauses Norandar, darin gab er seinem Bruder recht. Und wenn der Zaranth und das letzte wirklich freie Land der Menschen dafür fallen mussten, dann würde er dafür sorgen.
»Drei Tage also«, sagte er. »Dann werden wir weiterziehen. Wir können hier, innerhalb des Waldes …« Er unterbrach sich und sah stirnrunzelnd auf den Boden unter sich.
Das Moos und das plattgetretene Gras, über das man duftende Rindenstücke des Yondarbaums gestreut hatte, rührten sich nicht. Dennoch lag ein Grollen in der Luft. Telarion vergaß, was er zu seinem Bruder und dessen Berater hatte sagen wollen und lief hinaus.
Die Lichtung am See war noch immer in Sonnenschein getaucht. Nach wie vor befanden sich nur der Schmied und der Musikant in ihrer Mitte. Doch beide hatten in dem, was sie taten, innegehalten und sahen nun wie Telarion in die Höhe.
Wieder grollte und donnerte es, als hätte sich über ihnen am klaren Himmel ein Gewitter zusammengebraut.
Doch dann war wieder alles still.
Telarion schüttelte den Kopf. Er war wohl einer Täuschung aufgesessen.
Doch dann bäumte sich die Erde unter seinen Stiefeln auf, als trage sie eine Last, die sie unbedingt abschütteln wollte. Telarion fiel. Er versuchte, sich an den Stangen des Baldachins, der den Eingang des königlichen ethandin
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