Dunkelmond
hierherbrachte.« Er warf das Tuch, in das er das Band und eine schmale Zange eingeschlagen hatte, neben sie aufs Bett, bückte sich und wickelte beides aus. »Doch ich gestehe, was ich hier fand, erschreckt mich zutiefst.«
Er gab sich keine Mühe, seine Verachtung zu verbergen.
Sie ließ ihn nicht aus den Augen.
»Ich bitte Euch«, wisperte sie. »Lasst Euch nicht täuschen.«
Sinan senkte den Blick. Seine Augen brannten. Mit zitternden Händen nahm er das Band. Ihm war egal, dass die Kälte des hauchfeinen Rindengewebes seine Fingerspitzen ertauben ließ. Er band es seiner Schwester um den Hals.
Sie ließ es geschehen und legte dabei auch die Hand auf seinen Arm. Plötzlich neigte sie ihr Gesicht und drückte ihm einen Kuss auf den Unterarm, sodass Bertalan es nicht sehen konnte. Ihre Lippen waren rau und vor Kälte gesprungen.
Als sie wieder aufsah, hatte sie Tränen in den Augen.
Wie konnte sie nur erwarten, dass er ihr verzieh! Zitternd verknotete er das Band in ihrem Nacken. Immer wieder entglitten die Enden seinen eisigen Fingern, immer wieder musste er neu ansetzen.
»Erklärt es mir, Mendari Amadian!«, sagte er dabei halblaut. »Erklärt, warum ich nicht glauben sollte, dass Ihr Euch so verhaltet, wie der Vogt sagte und wie es Siwanon selbst einst tat.«
In ihren Augen flackerte es bestürzt auf. »Glaubt nicht, ich würde den Herren von Norad freiwillig dienen!«, wisperte sie hastig und mit einem schnellen Blick auf Bertalan, der gelangweilt aus dem Fenster sah. »Jedes Kind des Akusu weiß, was Tarind im Kloster des Abends anrichtete. Wie könnte ich es also vergessen! Ich könnte es nie, auch um des Namens willen nicht, den ich trage.«
Sinan betrachtete sie, ihre Augen, die von der gleichen Farbe waren wie seine. Sie war Blut von seinem Blut, die nächste Verwandte, die er noch hatte. Nie hatte sie ihn angelogen.
Und doch – in den Tiefen ihrer Augen glaubte er, plötzlich ein grünliches Gitter zu sehen, ähnlich einem Netz. Einen Herzschlag später war der Eindruck wieder gewichen.
Aber Sinan war sicher, dass er sich nicht getäuscht hatte. Seine Schwester hatte ihr Volk verraten und bereits begonnen, Tarind und seinem Zwilling ihre Kraft zu geben. Wie ihr Vater, den sie all die Jahre in Schutz genommen hatte.
Aber vielleicht war doch noch ein Funken Ehre in ihr.
Seine Miene wurde hart. »Beweist es mir, Mendari Amadian«, sagte er. Er beugte sich nach einem schnellen Blick auf den Vogt, der ihm nun wieder ungeduldig zuwinkte, noch einmal über sie, als wolle er den Knoten kontrollieren, mit dem er ihr Sklavenband geknüpft hatte. Es musste halten. Sie hatte seinen Namen bisher nicht genannt, das hieß, dass die Herren der Festung wohl wussten, wer sie war, seine Identität hingegen einstweilen noch geschützt war.
Er überlegte einen Moment lang, ob sie nun auch ihn verraten würde, und stellte sich der bitteren Erkenntnis, dass er nur hoffen konnte, sie sei stark genug, um wenigstens ihren Bruder zu schützen. Auf ihn durfte kein Verdacht fallen.
Als sie den Blick senkte, zog er unauffällig den qasarag aus dem Hosenbund und ließ ihn in ihren Schoß fallen.
Sie sah auf, und ihre Augen weiteten sich, doch dann ließ sie das Päckchen schnell in den Falten ihres Rocks verschwinden.
»Wie?«, hauchte sie, als sie wieder aufsah. »Wie soll ich es beweisen?«
Seine Lippen waren an ihrem Ohr, während er ein weiteres Mal den Knoten des Sklavenbands überprüfte.
»Man sagt, dass nur der Tod einen Verrat sühnen kann«, murmelte er und richtete sich auf. »Wendet an, was ich Euch gab. Beweist mir, dass Ihr noch wisst, was es heißt, eine Amadian zu sein.«
Ihr Gesicht war kreidebleich geworden. Sie rührte sich nicht, wandte aber auch nicht den Blick von ihm.
Sinan nickte noch einmal kurz, dann war er bei Bertalan an der Tür und schlug mit der Faust dagegen.
Er drehte sich nicht noch einmal um, sondern ging, ohne sich noch einmal nach seiner Schwester umzusehen.
Entsetzt sah Sanara, wie sich die Tür ihres Kerkers hinter Sinan und dem Vogt schloss.
Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Ihr Bruder war hier gewesen!
Ihr Bruder, der für sie gesorgt hatte, nachdem er sie durch das Blut und die Leichen führte, die die Mordlust des Elbenfürsten hinterlassen hatte. Sinan, der ihr in den Straßen Guzarats Äpfel und Brot gestohlen hatte, wenn der Hunger sie quälte, bis sie es selbst tun konnte.
Ihr Bruder, der immer dafür gesorgt hatte, dass sie den Glauben an sich selbst
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