Dunkelziffer
Ljungkvist wohnte Ende der Achtzigerjahre in Sollefteä. Mit fünfzehn Jahren wurde sie in der Nacht zum dritten Juli neunzehnhundertneunundachtzig in der Nähe des Dorfes Saltbacken vergewaltigt, und mit sechzehn, am vierten April neunzehnhundertneunzig, brachte sie im Söderkrankenhaus in Stockholm die Tochter Emily zur Welt. Emily hieß in ihren vier ersten Lebensjahren tatsächlich Ljungkvist. Aber gleichzeitig mit der Entlassung von Sten Larsson aus dem Gefängnis in Härnösand verschwanden sowohl Hanna Ljungkvist als auch Emily. Hanna hatte Larsson als Täter identifiziert. Warum hatten Sie Angst vor ihm?«
Birgitta Flodberg saß schweigend da und zog an ihrer Zigarette. Ihr Blick verlor sich am blassblauen Himmel über Hammarby Sjöstad.
Kerstin Holm fuhr fort: »Die Entschädigung reichte dafür aus, dass Hanna, gerade sechzehn geworden und hochschwanger, sich eine Einzimmerwohnung in Skärmarbrink beschaffen konnte. Sie brachte ihre Tochter Emily zur Welt und begann in kriminellen Kreisen zu verkehren. Der Name Hanna Ljungkvist taucht zwischen neunzehnhundertneunzig und dreiundneunzig in einer Reihe von Ermittlungen in Fällen kleinkrimineller Delikte auf. Was waren das für Kreise, in denen Sie gelandet waren? Und wie gelang es Ihnen, trotz all Ihrer kriminellen Kontakte das Kind zu behalten?«
Birgitta Flodberg schwieg weiter.
Kerstin Holm tat, als verlöre sie die Geduld. »Nun kommen Sie schon, Birgitta«, rief sie. »Sie sind eben dreißig geworden und haben sich die größte Mühe gegeben, auszusehen wie mindestens vierzig. Niemand in Ihrer Generation heißt Birgitta, Sie sind Hanna. Wieso haben Sie den Namen gewechselt?«
Frau Flodberg schüttelte nur den Kopf, sehr leicht, es war kaum mehr als ein Zucken.
»Ich frage mich, ob Sie nicht längst wussten, dass Ihr Hintergrund uns helfen könnte, Emily zu finden. Ich frage mich, ob Sie überhaupt wollen, dass sie gefunden wird?«
Jetzt wandte Birgitta Flodberg sich tatsächlich in Kerstins Richtung. Ihr Blick war dunkel, beinahe zornig. Aber sie schwieg weiter.
Richtige Strategie, dachte Kerstin. Endlich. Sie beschloss, die Schrauben noch etwas fester anzuziehen: »Wessen verdammtes Kind war dies eigentlich? Das Kind eines Vergewaltigers, eines wahnsinnigen Pädophilen. Als Emily verschwand, wurde Ihnen plötzlich klar, wie Sie sie während ihrer ganzen Kindheit gehasst haben. Sie war das Zeichen Ihrer Schwäche, der Beweis dafür, dass Sie sich hatten vergewaltigen lassen. Sie war eine Verunreinigung, und es war Zeit, dass diese Verunreinigung verschwand.«
Herrgott, dachte Kerstin Holm. Was tue ich hier? Ich habe das Gleiche erlebt wie diese Frau, und ich war sogar erwachsen. Ich hatte mich so verdammt an diese Welt der Vergewaltigung gewöhnt, dass ich es für das Natürliche hielt. Und ich habe auch ein Kind bekommen. Aber ich habe es weggeworfen. Sie hat ihres behalten und es geschafft. Birgitta Flodberg ist stärker und besser als ich.
»Nein«, sagte Birgitta Flodberg neutral.
»Was?«, sagte Kerstin und merkte, dass sie sich in eigenen Gedanken verrannt hatte.
»Nein, Emily war keine Verunreinigung«, sagte Birgitta Flodberg ruhig. »Ich vermisse sie. Ich würde mein Leben dafür geben, sie zurückzubekommen. Auch wenn sie mich hasst.«
»Man kann eine zweite Chance bekommen«, sagte Kerstin mindestens ebenso sehr zu sich selbst wie zu Birgitta. Eine Atmosphäre von Frieden, von unerwartetem gegenseitigen Verständnis, breitete sich zwischen den Frauen aus.
»Warum haben Sie nichts davon erzählt?«, fragte Kerstin.
»Es geht nicht«, sagte Birgitta. »Es tut zu weh.«
»Was genau tut so weh?«
»Alles. Die Vergewaltigung, die Flucht, die Drogenunterkünfte.«
»Und dass Sie den falschen Täter identifiziert haben?« Die Atmosphäre verflüchtigte sich.
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, sagte Birgitta Flodberg scharf.
»Emilys und Sten Larssons DNA sind bei der Analyse. Und das Sperma von der Vergewaltigung. Es kann sich nur um Stunden handeln, bis wir erstens wissen, ob Emily Stens Tochter ist, und zweitens, ob Sten der Vergewaltiger war. Also vergeuden Sie jetzt keine Zeit mehr, Hanna.«
Birgitta Flodbergs jetzt sehr konzentrierter Blick wurde zusehends schmaler. Es sah aus, als überlegte sie.
Schließlich sagte sie: »Ich wollte es einfach hinter mich bringen. Elvira, also Elvira Blom, meine Freundin, zu der wir auf dem Weg nach Hause waren, als es passierte, war noch in Lebensgefahr, sie hatte einen solchen
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