Dunkelziffer
Schlag auf den Kopf bekommen, dass sie künstlich beatmet werden musste. Und ich selbst stand völlig unter Schock. Ich musste einfach weg. Die Polizei war sehr eifrig, sie fanden einen Verdächtigen, der außerdem pädophil war. Ich war bereit, ihn zu opfern, um meine Ruhe zu haben. Um den ganzen Scheiß loszuwerden und nach Stockholm abhauen und anonym werden zu können. In Ängermanland war ich ja doch nur die Göre, die sich in Discos herumtrieb und sich betrank und vielleicht nicht einmal vergewaltigt wurde, sondern es genossen hatte. Ich musste da weg, um jeden Preis.«
»Erzählen Sie von Anfang an«, sagte Kerstin Holm und wagte es, Birgitta Flodberg die Hand auf den Arm zu legen.
Sie guckte nur darauf und sagte: »Wir waren fünfzehn Jahre alt und gingen zum ersten Mal in die Disco. Elvira wohnte in Saltbacken, und ich wollte bei ihr übernachten. Wir tranken ein bisschen an dem Abend, nicht besonders viel, und als wir aus dem Bus stiegen, wollten wir eine Abkürzung durch den Wald nehmen. Mitten im tiefsten Wald, mitten in der Nacht, stürzt sich jemand auf uns. Ich sehe, dass er Elvira mit einem großen Stein auf den Kopf schlägt, dann wirft er sich auf mich und vergewaltigt mich. Als er fertig ist, vergewaltigt er sie auch noch, obwohl sie bewusstlos ist.« »Wie sah er aus?«
»Ich habe nur sehr wenig von ihm gesehen,und das habe ich der Polizei geschildert. So fanden sie diesen Sten Larsson. Es passte nicht, er war viel zu schmal, aber ich ließ mich darauf ein. Ich identifizierte ihn bei einer Gegenüberstellung, weil die Polizei ihn eigentlich vorher schon als den Schuldigen präsentiert hatte. Dann bin ich nach Stockholm gezogen, und Ende Februar bin ich kurz zurückgekommen, wegen der Gerichtsverhandlung. Da war ich im siebten Monat.«
»Was fühlten Sie für das Kind in Ihrem Bauch? Warum beschlossen Sie, es zu behalten?«
»Ich weiß es nicht. Ich war wohl einfach so apathisch, dass ich den Zeitpunkt verpasst habe. Meine Eltern hatten sich von mir abgewendet, sie versuchten, so zu tun, als wäre es nicht passiert. Ich glaube, dass meine Mutter einmal sagte, sie finde, ich sei dick geworden...«
»Und als Emily geboren wurde?«
»Als Emily geboren wurde, habe ich sie sofort geliebt. Aber ich geriet draußen in Skärmarbrink in kriminelle Kreise und wurde ins Drogenmilieu hineingezogen, ohne selbst besonders viel gekifft zu haben. Und ein paar Jahre ging es mir ziemlich mies. Aber ich habe mich die ganze Zeit ordentlich um Emily gekümmert. Ich hatte eine Bekannte beim Sozialamt, die das gesehen hat. Sie war souverän, sie hatte erkannt, dass Emily mich am Leben hielt, und sie passte ein bisschen auf mich auf. Und dann hatte ich genug. Ich sagte mir, dass Sten Larsson vielleicht eine Riesenwut auf mich haben würde, wenn er aus dem Gefängnis kam, und außerdem passte es gut damit zusammen, dass ich mein Leben veränderte - ich wechselte den Namen. Flodberg habe ich mir ausgedacht, weil es so absurd war, Fluss und Berg, und Birgitta war mein zweiter Vorname. Vielleicht würde es helfen, dass Larsson mich nicht fand, wenn er wütend war.«
»Und der Täter?«
Birgitta Flodberg schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts von ihm. Vielleicht ist er noch immer da oben in Saltbacken.«
Kerstin nickte und unterdrückte eine Bemerkung. Stattdessen sagte sie: »Und wie hat Emily alles erfahren? Sie war diejenige, die dafür gesorgt hat, dass die Klassenfahrt nach Saltbacken unternommen wurde. Sie war allem Anschein nach dort, um den Mann zu treffen, den sie für ihren Vater hielt. Stattdessen ist sie verschwunden, und wir haben Sten Larsson ermordet aufgefunden.«
Birgitta Flodberg hob tatsächlich die Augenbrauen. »Ermordet?«
»Es kann durchaus sein, dass Emily ihm die Kehle durchgeschnitten hat«, sagte Kerstin, die wirklich eine drastische Reaktion brauchte.
Doch Birgitta Flodberg sagte nur: »Emily ist nicht besonders gewalttätig.«
»Wir haben Zeugen, die etwas anderes sagen. Außerdem interessierte sie sich stark für Messer im Internet.«
»Unsinn. Sie ist ein sensibles und etwas verletztes Mädchen. Und ich weiß wirklich nicht, wie sie das mit Saltbacken und Sten Larsson herausbekommen hat. Ich habe ihr nichts erzählt.«
»Hat sie nie nach ihrem Vater gefragt?«
»Sie ist mit einer Lüge aufgewachsen«, sagte Birgitta Flodberg, zündete sich eine neue Zigarette an und hielt den Blick auf die Tischplatte gesenkt. »Ich habe ihr erzählt, ihr Vater sei bei einem Autounfall ums
Weitere Kostenlose Bücher