Dunkelziffer
Füße lagen auf dem Schreibtisch. Über der regulären Tastatur saß das ungleichste Paar des gesamten Polizeikorps, Jorge Chavez, 169 cm, und Jon Anderson, 203 cm.
»Wie sieht es aus?«, fragte Kerstin Holm.
»Weiß nicht recht«, sagte Chavez, »wie sieht es aus, Löfström?«
»Nicht schlecht«, sagte der Zerzauste und kaute auf einem Bleistift. Seine Mundwinkel waren schwarz vom Blei. Und das schien noch das Gesündeste an ihm zu sein.
»Nicht schlecht«, wiederholte Chavez und nickte.
»Du bist also der Computerexperte, den uns die Reichspolizeiführung versprochen hat?«, sagte Holm und streckte die Hand aus.
Der Zerzauste errötete und schüttelte ihre Hand. »Axel Löfström«, sagte er. »EDV-Techniker bei der Finanzpolizei.«
»Ja, die haben Computerhilfe sicher bitter nötig«, sagte Holm. »Was heißt >nicht schlecht < ?«
»Das hier ist ein äußerst komplexes Schutzsystem«, sagte Löfström. »Es sagt die Wahrheit. Die Daten auf der Festplatte werden tatsächlich gelöscht, wenn man dreimal ein falsches Passwort eingibt. Das Programm beinhaltet eine Hardwarealteration. Aber es soll eine Möglichkeit geben, diese zu umgehen, ich habe ein paar grundlegende Tipps vom FBI bekommen, ausgerechnet. Wir kommen voran. Es sieht nicht schlecht aus.«
Jon Anderson entfaltete seine stattliche Gestalt, streckte sich, dass es in allen Gelenken knackte, und sagte durch ein unterdrücktes Gähnen hindurch: »Aber es gibt ein Fragezeichen.«
»Ja?«, sagte Kerstin Holm.
»Die Kriminaltechniker haben fremde Substanzen an dem Computer gefunden.«
»Was denn? Rauschgift? Sperma?«
»Wir sollten uns vielleicht dem Wesentlichen widmen?« sagte Chavez und starrte wie hypnotisiert auf den Monitor.
»Babynahrung«, sagte Jon Anderson dramatisch. »Genauer gesagt, Fleischklößchen mit Zucker.«
»Zucker?«, stieß Chavez empört aus.
»Hmm«, sagte Kerstin Holm wie Sherlock Holmes und fixierte Chavez. »Und was ist das Wesentliche? Wenn ihr noch nicht in den Computer hineingekommen seid?«
»Hineinzukommen«, sagte Chavez mit überdeutlicher Artikulation, den Blick noch immer wie gebannt auf den erloschenen Monitor gerichtet.
»Und das tut man also, indem man ihn hypnotisiert?«
»Das tut man, indem man nicht dauernd gestört wird.«
»Aha«, sagte Holm und unterdrückte schon wieder ein Lächeln. »Ruf mich sofort an, wenn ihr drin seid.«
Worauf sie den Schauplatz der Katastrophe verließ und durch den Korridor zurückging. Einen Moment lang dachte sie daran, wie es eigentlich um das einzige verheiratete Paar der A-Gruppe bestellt war. Gab es nicht jedes Mal eine seltsame atmosphärische Störung, wenn Jorge Chavez Sara Svenhagen erwähnte und umgekehrt?
Aber das waren zu viele Vermutungen auf einmal.
Wilde Spekulationen.
>Zucker?<
Kerstin Holm kehrte in ihr Zimmer zurück. Tatsache war, dass sie um den Schreibtisch gehen und sich auf ihren Stuhl setzen konnte, bevor sie bemerkte, dass sie nicht allein war.
Auf einem Hocker in der Ecke saß Abteilungsleiter Waldemar Mörner, formeller Chef der A-Gruppe. »Ich stelle fest, dass zwei deiner Leute in ihrem Zimmer sitzen und Büroklammern nach Farben sortieren«, sagte er. »Rote in ein Fach, grüne in ein anderes und so weiter. Sie unterscheiden sogar zwischen türkis und hellblau. Außerdem sitzen zwei Männer über einen Computer gebeugt, der von einem kostenintensiven externen Experten bedient wird. Man kann nicht behaupten, dass deine Auslastung optimal ist.«
Kerstin Holm widerstand dem Impuls, eine Retourkutsche zu fahren, was den personellen Auslastungsgrad des Potentaten selbst betraf. Stattdessen sagte sie mit kluger Vorsicht: »Chavez und Anderson werden bald alle Hände voll damit zu tun haben, eine Festplatte im Detail zu untersuchen, Söderstedt und Norlander werden mir am Nachmittag helfen, ein paar wesentliche Fragen bezüglich des Milieus zu klären, in dem Emily Flodberg aufgewachsen ist. Aber damit können wir erst anfangen, wenn wir wissen, was auf ihrer Festplatte ist. Der Auslastungsgrad darf unter den gegebenen Umständen als optimiert angesehen werden.«
Nichts machte auf Waldemar Mörner mehr Eindruck als ein wohlformuliertes wirtschaftliches Argument - er widmete den größten Teil seiner Zeit dem Konstruieren solcher Argumente. Gleichwohl schüttelte er jetzt den Kopf, beugte sich vor und klatschte eine braune Mappe auf den Schreibtisch. »Zwei von ihnen müssen sich hiermit beschäftigen«, sagte er. »Man kann sich das
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