Dunkelziffer
»Vielleicht zweihundert Meter.«
»Sie haben uns kommen hören«, nickte Lena Lindberg am Steuer.
»Und jetzt haben sie uns anhalten hören«, sagte Sara und dachte an Isabel. Während der letzten Minuten hatte sie ihre zweijährige Tochter beinahe ununterbrochen vor sich gesehen.
Aber hinter Isabel gewann etwas anderes Konturen. Etwas, was gerade in diesem Moment eine neue Färbung annahm. Es war Jorge. Und es waren die ersten kleinen Anzeichen, dass sie ihn vermisste.
»Stell den Wagen hier ab«, sagte Gunnar Nyberg und öffnete die hintere Tür.
Lena Lindberg fuhr den Wagen an die Seite, löste den Sicherheitsgurt und zog den Reißverschluss ihrer Jacke herunter. Sie zog ihre Pistole heraus und entsicherte sie. Dann ging sie los, den ansteigenden Viehpfad hinauf. Gunnar Nyberg griff ebenfalls zu seiner Waffe und setzte seinen massiven Körper in Bewegung, ihr nach, mit einer Geschmeidigkeit, die Sara Svenhagen stets von Neuem in Erstaunen versetzte. Sie selbst ging dicht hinter ihnen. Sie fragte sich, wie oft sie eigentlich schon ihre Dienstwaffe gezogen hatte.
Sehr oft war es nicht gewesen.
Je weiter der Pfad in den Wald führte, desto dichter rückten die Bäume heran. Es war schwer vorstellbar, wie ein Auto hier hatte hinauffahren können. Schließlich war nur noch der Wald da.
Sie schlichen sich auf die Anhöhe. Ein schwaches Rauschen durchzog den Wald, als versuchte er, etwas zu sagen.
Vielleicht wollte er sie auf seine zurückhaltende Art warnen.
Nichts war zu sehen. Sie überquerten die Hügelkuppe. Mitten im undurchdringlichsten Unterholz tat sich plötzlich eine kleine Öffnung auf. Licht fiel ihnen entgegen. Und in das Rauschen des Waldes mischten sich vage Andeutungen von Stimmen.
Durch die Öffnung konnten sie die Konturen einer kleinen roten Hütte ausmachen. Lilltorpet. Und daneben nahmen sie die noch vageren Konturen eines weißen Autos wahr.
Sie schlichen ein Stück näher heran.
Plötzlich ertönte ein Schrei, ein Brüllen. Es hallte durch den Wald und ließ das warnende Flüstern der Bäume verstummen. Es klang kaum menschlich. Eher wie ein Laut aus tiefster Urzeit.
Gunnar Nyberg ging auf die Knie und kroch unter das dichte Astwerk. Lena Lindberg fand auf der anderen Seite einer großen Fichte ein anderes Loch. Sie sahen sich von der Seite an.
Hier war das Sichtfeld nicht mehr verdeckt. Das Haus und der Wagen waren jetzt ganz deutlich.
Das Kennzeichen war zweifelsfrei litauisch. Aber es war kein Mensch zu sehen.
Lena Lindberg erstarrte, als der Schrei wieder ertönte. Sie warf einen Blick zu Gunnar Nyberg hinüber - und vertraute ihm.
Als der Schrei zum dritten Mal ertönte, hatte er sich verändert, war runder geworden, klang menschlicher. Fast wie ein Lachen. Ein brutales männliches Lachen.
Ein dumpfer Schlag war zu hören. Ein einziger, wie wenn man auf eine Trommel mit lose gespanntem Fell schlägt. Ein vierter Schrei - und jetzt waren es mehrere Stimmen. Eine Kakophonie von Brunstschreien.
Nyberg machte Lindberg ein Zeichen. Sie nickte und hob die Waffe, wie um ihm Deckung zu geben. Er duckte sich und lief mit all seiner gesammelten Geschmeidigkeit hinüber zu dem kleinen Haus. Er presste den Rücken gegen die raue rote Wand und hob die Waffe in Brusthöhe, die beiden großen Hände um den Kolben. Dann nickte er.
Lena Lindberg blickte zur Seite, zu der Öffnung, durch die Nyberg sich geschlängelt hatte. Sara Svenhagen tauchte auf, offensichtlich widerwillig. Sie richtete sich auf, kam in die Hocke, hob die Waffe und nickte kurz, bevor Lena Lindberg zum Haus lief.
Jetzt standen die beiden an die rote Holzwand gedrückt. Gunnar machte ein Zeichen zu Sara hinüber. Es bedeutete: >Bleib da, gib uns Deckung.< Oder möglicherweise: >Du, meine Lichtgestalt, darfst dich ke iner unnötigen Gefahr aussetzen<.
Die Lichtgestalt dachte an eine dunkle Gestalt. Sara stand dort mit gezogener Waffe und dachte immer intensiver an Jorge.
Gunnar zeigte nach rechts. Lena nickte.
Gerade als sie losgehen wollten, jeder nach einer Seite, war wieder ein schwerer Schlag zu hören, auf den ein Brüllen folgte, das die vorigen noch übertraf.
Lena verharrte einen Moment, bevor sie nach rechts ging. Gunnar ging um die Ecke nach links.
Lena näherte sich der Hausecke. Sie warf einen Blick um die Ecke und zog den Kopf schnell wieder zurück. Nichts. Nur Wald. Reiner, unberührter Wald. Dunkler, finsterer Wald. Dann glitt sie um die Ecke und bewegte sich lautlos die Giebelseite des Hauses
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