Dunkelziffer
ihr Wunsch war hierherzukommen?«
»Es hat niemand danach gefragt«, sagte Johan und sah traurig aus.
Weil es kurz vor Mittsommer war, konnte man nicht von Dämmerung reden, die Sonne ließ weiter unverdrossen ihre Strahlen zwischen den Baumstämmen hindurchfallen. Dennoch lag etwas in der Luft, was Dämmerung andeutete - ein Duft, ein Frieden, eine Stille, eine Bewegungslosigkeit, was indessen durch die Aktivität im Hintergrund vollauf kompensiert wurde.
Es war Zeit für die Abreise. Die Vierzehnjährigen liefen aufgeregt hin und her. Erst jetzt würden die Sommerferien richtig anfangen.
Es war, als hätte Emily Flodberg nie existiert.
Sara Svenhagen, Lena Lindberg und Gunnar Nyberg saßen noch an dem Gartentisch.
Eigentlich kann man nie nachvollziehen, was ein anderer Mensch erlebt, wie nah man einander auch stehen mag, aber jetzt hatten sie das Gefühl, die Melancholie wirklich zu teilen, die sich auf sie herabsenkte. Wenn die Schulklasse verschwand, würde die Melancholie sich ihrer bemächtigen, nach ihren Herzen greifen und das Lebensblut aus ihren Seelen saugen.
Doch das war in der Regel reinigend.
»Es ist ein langer Tag gewesen«, sagte Sara matt. »Aber er ist noch lange nicht zu Ende. Was haben wir eigentlich?«
»Mehr, als wir geglaubt haben«, sagte Gunnar Nyberg ebenso matt und tippte mit geübter Hand Sten Larssons Telefonnummer auf seinem Handy ein. »Wir befinden uns gewissermaßen im Inneren von Emilys Plan. Warum wollte sie gerade hierher?«
»Hat es nicht mit den Pädophilen zu tun?«, sagte Lena.
»Die Nacktbilder und Männerhasserseiten im Internet. Gerade hier haben wir eine ungewöhnlich dichte Besiedelung von Pädophilen.«
»Und Messerseiten...«, sagte Sara. »Vielleicht jagt nicht Sten Larsson Emily durch den Wald - sondern umgekehrt?«
»Hat sie die Männer mit der Homepage angelockt und dann beschlossen, gegen Pädophile vorzugehen?«, sagte Gunnar. »Mein Gott, sie ist doch erst vierzehn! Das ist zu ausgeklügelt, ganz unmöglich. Sie ist ein Kind.«
»Die Altersstufen erleben zurzeit eine sonderbare Veränderung«, sagte Lena. »Erwachsene werden Kinder, und Kinder werden Erwachsene. Unsere Zeit ist in Unordnung.«
»Die Zeit ist aus den Fugen«, sagte Gunnar Nyberg altersweise.
»Der Wald ruft«, sagte Sara und stand auf. »Wir müssen Sten Larssons Spur durch den Wald verfolgen. Das liefert uns vielleicht eine Erklärung dafür, warum er sich zwanzig Minuten nach Emily dort befand. Mit diesen zwanzig Minuten ist irgendetwas faul.«
Lena und Gunnar betrachteten sie und verstanden, dass dies eine Art und Weise war, der Melancholie zuvorzukommen und die lauernde Angst auf Abstand zu halten.
Sie standen auf und folgten ihr in den Wald.
Hinter ihnen fuhr ein großer Bus auf den Parkplatz. Die Jugendlichen sammelten sich mit ihrem Gepäck in einem Rudel, durch das sich eine Art kollektives Beben fortpflanzte. Es war offensichtlich, dass sie kaum erwarten konnten, von hier fortzukommen.
Alles war jetzt besser als Saltbacken.
Sara Svenhagen war schon auf dem Weg in westlicher Richtung in den Wald. Gunnar Nyberg und Lena Lindberg joggten ihr nach und schlossen zu ihr auf. Gunnar tippte wieder mal die Nummer von Sten Larssons Handy ein, und Sara fasste zusammen, während ihr die Zweige ins Gesicht klatschten: »Sten Larsson dürfte also zweimal von unabhängigen Suchgruppen im Wald gesehen worden sein. Das erste Mal muss ungefähr hier gewesen sein.«
Sie blieb stehen und sah sich um. Das Blickfeld war klar begrenzt, in allen Richtungen stieß es auf Widerstand in Form von Bäumen und noch mal Bäumen. Aber auch in Form eines großen Steinblocks, eines Findlings, der in der Eiszeit mit dem Eis aus großer Entfernung herantransportiert worden war.
»Hier hat Julia Johnsson einen militärgrünen Fleecepulli gesehen und ihn irrtümlich für Jonatan Janssons Pulli gehalten.«
Sie gingen umher und suchten zerstreut nach Spuren.
Lena Lindberg blieb hinter dem Findling stehen und sagte: »Hier könnte jemand gestanden haben.«
Gunnar und Sara kamen dazu. »Hier ist der Boden platt getreten, ohne Zweifel«, sagte Gunnar.
»Kann man eine Fußspur erkennen oder irgendeinen verlorenen Gegenstand?«
»Das ist nicht ganz unmöglich«, sagte Sara und zeigte auf den moosbedeckten Boden. »Keine verlorenen Gegenstände, aber immerhin Fußabdrücke. Die Techniker können sich das einmal ansehen.«
»Julia Johnssons letzter Aufwallung zufolge hat sie ihn hier gesehen«, sagte Lena.
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