Dunkelziffer
Vierzehnjährigen geworden. Es hatte für sie einen bitteren Geschmack. War bereits das Leben in der Schule bis über alle Grenzen der Toleranz eskaliert? War nicht schon der Ton zwischen den Schulkindern eine Art Schiffbruch der demokratischen Erziehung des Menschen? Musste nun auch die Prostitution ein selbstverständlicher Teil unseres Denkens werden?
Kerstin Holm seufzte und versuchte, sich auf die Sachlage zu konzentrieren. Leider war die Sachlage nicht so leicht zu greifen.
Welche Verbindung bestand zwischen Emilys Homepage und Saltbacken? War sie wirklich in so etwas wie einer Mission begriffen, im - wenn auch nicht erteilten - Auftrag aller Kinder, all derer, die sich in der Gefahrenzone eines Pädophilen befanden? Hatte sie sich darüber unterrichtet, dass es ausgerechnet in Saltbacken eine unerwartete Anhäufung von Pädophilen gab? Hatte sie sich genau darauf vorbereitet, Pädophile umzubringen? Mit Messern umzugehen hatte sie offenbar tatsächlich trainiert, sie trug einen allgemeinen Männerhass als schweres Gepäck mit sich herum, und sie hatte schon Monate vorher zielbewusst und äußerst planvoll ausgerechnet den Weg nach Saltbacken gesucht. Und sie hatte tatsächlich Handykontakt mit Sten Larsson gehabt. Von Larssons Telefon mit seinem grotesken Monty-Python-Klingelton war Emily angerufen worden, und dieses Telefon war von ihr angerufen worden - ihre Nummer war in dem ausgegrabenen Handy gespeichert. Zwar lag keine einzige gespeicherte Nummer mehr als einen Monat zurück, aber schon damals, schon Mitte Mai, hatte es einen ersten Kontakt gegeben. Und diesen ersten Kontakt hatte Emily hergestellt. Seitdem hatten sie etwa zehnmal miteinander telefoniert, und die beiden letzten Gespräche fielen in die Zeit des Aufenthalts der Schulklasse in Saltbacken. Emily hatte Sten am Abend vor ihrem Verschwinden angerufen, und unmittelbar nachdem sie in den Wald gegangen war, hatte Sten angerufen. Vermutlich hatten sie ein Treffen verabredet, und Emily war nur in die falsche Richtung gegangen. Um zwölf Minuten nach eins wurde sie von Sten Larsson angerufen. Das Gespräch dauerte vier Minuten. Es war ziemlich wahrscheinlich, dass sie in diesem Gespräch ihre Positionen abzustimmen versuchten, um sich zu treffen. Emily rannte in nördlicher Richtung, blieb an einem Busch hängen und zerriss ihre Jacke. Nur etwa drei- bis vierhundert Meter weiter in nordöstlicher Richtung begegneten sie sich.
Und Emily schnitt ihm die Kehle durch.
War es wirklich so gewesen? Stimmte das?
Selbst zu denken ist groß, zusammen zu denken ist größer.
Ein altes Dschungelsprichwort.
Ich brauche einen Gesprächspartner, dachte Kerstin Holm. Ihr erster Gedanke war Paul Hjelm, ihr zweiter Bengt Äkesson. Aber beim dritten Gedanken blieb sie stehen. Weil er realistisch war.
Sie drückte einen Knopf der internen Telefonanlage, und es dauerte nicht lange, bis zwei wohlbekannte Gesichter in ihr Zimmer schauten.
Eines war sehr weiß, das andere schräg-nach-innen-rückwärts gewandt.
Arto Söderstedt und Viggo Norlander nahmen vor ihrem Schreibtisch Platz.
»Wie geht es?«, fragte sie.
»Es ist sieben Uhr, und wir sind immer noch hier«, sagte Norlander finster. »Es geht gut. Viel zu gut. Wir haben massenweise verdächtige Todesfälle mit schweren körperlichen Schäden zusammengesucht. Jetzt muss Astrid sich so viel um die Mädchen kümmern, dass mein ganzer Mittsommerabend fürs Kinderhüten draufgeht. Während sie mit den Nachbarn auf dem Land saufen geht.«
»Du versuchst immer, negative Impulse zu finden«, sagte Söderstedt. »Du solltest wirklich etwas gegen diesen Hang tun. Eben warst du noch ausgelassen wie ein Kalb auf der Weide.«
»Sc hnauze«, sagte Viggo Norlander.
»Es gibt eine Wendung im Fall Emily Flodberg«, sagte Kerstin Holm vollkommen immun gegen das Meckern. »Wendung?«
»Eine Wendung in eure Richtung, meine Herren. Vielleicht. Ich muss das ein bisschen mit euch durchkauen.«
Und dann erzählte sie die ganze Geschichte.
»Durchgeschnittene Kehle?«, sagte Arto Söderstedt, als Kerstin zu Ende erzählt hatte. »Hat sich der Gerichtsmediziner das angesehen?«
»Ja«, sagte Kerstin Holm. »Die vorläufige Untersuchung hat ergeben, dass es sich entweder um ein Messer mit sehr feiner Klinge handelt, die scharf geschliffen war und sicher geführt wurde - oder um eine Klaviersaite.«
»Da scheint vieles auf Emily hinzudeuten«, sagte Norlander. »Es ist genau geplant. Monate vorher. Und dann die Kontakte
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