Dunkelziffer
Sie mir folgen?«
»Ist das nicht ein bisschen vereinfacht?«, sagte Steffe vorsichtig.
»In gewisser Hinsicht ist es das«, sagte die Frau. »Was ich Lebenskraft nenne, ist heutzutage sehr zersplittert - wir wollen mehr denn je. Es kann den Anschein haben, als wäre alles, was wir wollen - Dinge kaufen, Dinge erleben, Dinge tun -, von völlig unterschiedlicher Art. Aber eigentlich ist es nicht so. Es gibt eine einzige innere Triebkraft - wir können ruhig darauf verzichten, ihr einen Namen zu geben oder eine Ursache -, und die ist, wie überall in der Natur, sexueller Art. Alles Leben in der Welt beruht auf dem Willen zur Fortpflanzung. Alle Tiere und alle Pflanzen streben danach. Wir gehören der Natur an, und wir haben Zugang zu dieser Kraft. Bei uns ist sie jedoch sehr kompliziert geworden, da die Natur mit Kultur vermischt worden ist. Aber wir können diese Lebenskraft in uns wiederfinden. Manchmal tun wir es sehr deutlich, wenn wir uns verlieben, wenn wir Kinder bekommen, aber meistens ist sie wirr und gefesselt und schwer zu erkennen. Gelingt es uns aber, die Kraft wiederzufinden und in reiner Form zu kultivieren - wir können sie die sexuelle Energie nennen -, dann können wir sie genau betrachten und entscheiden, ob sie positiv oder negativ ist. Strebt sie zum Leben oder zum Tod? Das ist der Rand, an dem Sie balancieren, Stefan Willner, und deshalb interessieren Sie uns.«
Steffe schwieg. Er ahnte, dass er die Nacht in dem muffigen Hotelzimmer in dem muffigen Vorort damit verbringen würde, über die Worte der merkwürdigen Frau nachzudenken.
»Seid ihr eine Sekte?«, fragte er.
Die Frau lachte. Es war ein perlendes, lebensbejahendes Lachen von einer Art, wie Steffe es lange nicht gehört hatte. Früher hatte auch Marja so gelacht. Und er selbst auch?
Die Frau stand auf und ging auf ihn zu. Sie streckte ihm ohne ein Wort die Hand hin. Er stand auf, nahm die Hand und schüttelte sie. Dann war sie verschwunden.
Stattdessen kam der Buchhalter ins Büro. Er sagte in seiner trockenen Art: »Nehmen Sie jetzt das Geld. Wir lassen innerhalb von vierundzwanzig Stunden über das Handy von uns hören. Dann können Sie uns mitteilen, ob Sie weitere Kontakte wünschen.«
Steffe beugte sich hinunter und zog eine kleine Reisetasche unter dem Sofa hervor. Er sah den Buchhalter an. Es war nicht mehr derselbe Mann. Ebenso korrekt und grau wie sonst, aber jetzt ruhte er in einem ganz anderen Licht. Als ob diese ganze Korrektheit nur eine Art war, tja, die Lebenskraft zu bewahren, sie vital zu erhalten, sie für die richtige Gelegenheit zu sparen.
Der Buchhalter begleitete ihn hinaus. Unterwegs kamen sie an dem alten Eichensarg vorbei, den der Leibwächter und zwei andere Männer vorsichtig durch den Lagerraum rollten.
Das Skelett.
Sein erster Instinkt war richtig gewesen.
Er musste lernen, seinen Instinkten zu vertrauen. Denn schon als er das Skelett zum ersten Mal gesehen hatte, wusste er, dass etwas Besonderes daran war.
18
Es war offensichtlich, dass Kommissar Alf Bengtsson von der Polizei in Sollefteä nicht an unbequeme Arbeitszeiten gewöhnt war. Anderseits konnten sein etwas blasses Gesicht und - vor allem - seine extrem unordentliche Frisur mit etwas ganz anderem zu tun haben. Zum Beispiel mit einer Leiche.
Sara Svenhagen nahm an, dass Alf Bengtsson noch nie zuvor eine Leiche gesehen hatte. Routine und Gewichtigkeit, die der gute Kommissar sonst ausstrahlte, lösten sich vor dem Körper des dahingeschiedenen Sten Larsson in Wohlgefallen auf. Nicht zuletzt aufgrund der quer über den Hals verlaufenden Wunde.
Dieser Hals lag jetzt aufgeklappt im Krankenhaus von Sollefteä, und die Wundränder wurden mit speziellen Klammern auseinandergehalten, ein Anblick, von dem auch Sara Svenhagen nicht ganz unbeeindruckt blieb.
»Warum müssen wir hier sein?«, fragte Alf Bengtsson gequält.
Sara Svenhagen versuchte, es so behutsam wie möglich zu erklären: »Wir dachten, es wäre sinnvoll, dass ihr von der örtlichen Polizei zu den gleichen Informationen Zugang habt wie wir. Während du uns mit allen erdenklichen Fakten über den zweifachen Vergewaltigungsfall versiehst, der sich am dritten Juli 1989 hier in der Gegend ereignete. Es ist eine Möglichkeit, die Arbeit effektiver zu machen.«
»Ihr seid nicht die Ersten, die versuchen, uns Effektivität beizubringen«, murmelte Bengtsson und schlug seine Mappe auf. Anwesend in dem kleinen umfunktionierten Krankenhaussaal waren auch Gunnar Nyberg und Lena Lindberg
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