Dunkelziffer
gleich aus. Eine enorme Menge von Ziffern und Buchstaben in Reihen, die er nicht zu deuten versuchte. Er drehte sich um und zog einen zweiten Ordner aus dem Regal, irgendeinen von etwa dreißig identischen, die alle unbezeichnet waren. Auch dieser war prall gefüllt mit ähnlichen Papieren. Er stellte ihn zurück und wandte sich wieder dem aufgeschlagenen Ordner auf dem Schreibtisch zu. Er zog sein Handy aus der Tasche - sein eigenes, nicht das der anderen -, und in dem Augenblick, in dem er draußen im Lagerraum Schritte hörte, Schritte, die näher und näher kamen, gelang es ihm, die gesamte erste Seite in den Fokus der eingebauten Kamera zu holen. Er machte das Foto, hoffte, dass man es lesen konnte, speicherte es ab, stellte den Ordner wieder ins Regal und lief zurück zur Sofagruppe. Als die Tür sich öffnete, saß er - wie er hoffte - vollkommen ungerührt auf dem Sofa und sah selbstsicher aus.
Zurück in dem muffigen Hotelzimmer in dem muffigen Vorort, sollte ihm der Gedanke kommen, dass er sofort verstanden hatte: Es war nicht der Buchhalter, der in das Büro kam. Es waren nicht seine Schritte. Es waren hohe Absätze, die auf den Zementboden klickten. Vermutlich ziemlich hohe Absätze.
Und die Person, die hereinkam, war eine Frau.
Sie war etwa fünfunddreißig Jahre alt, lächelte breit und hielt ihm ohne ein Wort die Hand hin. Er stand auf und schüttelte sie.
»Willkommen«, sagte sie kurz, drehte sich um und setzte sich hinter den Schreibtisch.
»Gibt es Probleme mit der Ware?«, fragte Steffe so unschuldig wie möglich.
Die Frau hinter dem Schreibtisch zupfte ihr mittellanges Kleid zurecht, ordnete ihre elegante Jacke, schlug ein Bein über das andere, fuhr mit der Hand durch das halblange blonde Haar und sagte: »Nicht im Geringsten. Im Gegenteil, ich möchte Ihnen mit tief empfundener Aufrichtigkeit danken. Sie haben sich beispielhaft verhalten, Stefan Willner.«
Steffe änderte seine Sitzposition, als er das Foto machte. Es war ein Versuch, er hatte keine Ahnung, wie viel auf das Bild kommen würde, auch nicht, ob das Licht ausreichte oder die Entfernung stimmte. Aber er machte das Foto. Und mit ein paar Griffen, die ihm routiniert von der Hand gingen, speicherte er es ab und ließ das Handy in die Jackentasche gleiten.
»Sie wissen also, wer ich bin?«, sagte er, zufrieden teils damit, dass seine lichtscheue Aktivität unentdeckt geblieben war, teils damit, dass er mit seiner Paranoia nicht ganz falsch gelegen hatte.
»Wir können solche Summen nicht hergeben, ohne zu wissen, was wir tun«, sagte die Frau. »Außerdem interessieren Sie uns.«
»Ich interessiere Sie?«
»Sie haben gewisse Probleme mit Ihrer Frau, nicht wahr?«, sagte die Frau mit zur Seite geneigtem Kopf. Es war eine Position, auf die man nur mit größter Mühe böse werden konnte. Steffes Erregung richtete sich also nicht gegen die Frau hinter dem Schreibtisch, sondern auf ein unbekanntes Ziel am Rande des Universums.
»Was zum Teufel habt ihr mit meiner Frau zu tun?«, entfuhr es ihm. »Und wer zum Teufel seid ihr eigentlich?«
Die Frau schüttelte den Kopf, nicht verneinend, eher beruhigend, versenkte ihren Blick tief in seinem und sagte mit durchdringender Deutlichkeit: »Mit Ihrer Frau haben wir natürlich nichts zu tun. Aber mit Ihnen. Und mit den Gefühlen, die Sie durchmachen.«
»Warum?«, sagte Steffe verblüfft.
»Weil Sie am Rand balancieren«, sagte die Frau, ohne seinen Blick loszulassen.
Steffe wartete ab. Er ging davon aus, dass eine Fortsetzung folgen würde. Aber sie folgte nicht. Nicht von selbst. Die Antwort schien vorauszusetzen, dass er Fragen stellte. Aktiv wurde.
»An was für einem Rand?«, fragte er.
Die Frau lehnte sich zurück und schien sich ihre Worte zurechtzulegen. Sie sagte: »An dem Rand, dem sich unsere Vereinigung widmet.«
»Ich verstehe nicht recht...«
»Das menschliche Begehren ist eine sensible Gottesgabe. Man kann es ignorieren, kann so tun, als wäre es nicht vorhanden oder verschwunden, kann es in andere Aktivitäten umlenken. All das hat Namen, psychologische, physiologische, religiöse, aber Namen sind nicht das Wichtige. Das Wichtige ist die Lebenskraft. Denn im Grunde lässt sich alles menschliche Streben, jeder menschliche Willensausdruck als eine einzige Konzentration von Energie betrachten, und sie ist es, die uns überhaupt erst dazu bringt, morgens aus dem Bett zu steigen. Diese Lebenskraft kann positiv oder negativ sein, konstruktiv oder destruktiv. Können
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