Dunkle Beruehrung
Suzerän Lucan und den übrigen Kyn-Lords.«
»Warum?«, fragte sie. Als er schwieg, setzte sie hinzu: »Kendrick, ich bin die einzige echte Polizistin hier – ich muss wissen, was vorgeht.«
»Wir konnten das Video der Kamera bergen, die im Armaturenbrett des Streifenwagens installiert ist«, gab er langsam zurück. »Die letzten Bilder zeigen, wie er den Geländewagen stoppt, den Bradford Lawson bei GenHance gestohlen hat. Und wie Lawson ihn angreift.«
»Lawson hat ihn also umgebracht.«
Dem
Tresora
schien unbehaglich zu sein. »Wir glauben, dass der Killer zu den Darkyn gehört und sich Lawsons sterblicher Hülle bedient. Ein Mensch könnte nicht tun, was er diesem Mann angetan hat.«
Sie ballte die vernarbte Hand zur Faust, als sie sich des seltsamen, ekelerregenden Gestanks entsann, der beim Mord an Ted Evans von Lawson ausgegangen war – und ihres Gefühls, dass etwas nicht stimmte. »Was hat er getan?«
»Den Bissspuren an den Überresten zufolge«, erwiderte Kendrick unglücklich, »hat er den Mann nicht nur getötet, sondern wohl auch Teile von ihm gegessen.«
Wie versprochen, gesellte Matthias sich in der Bibliothek zu Jessa und legte einen kleinen Stapel Bücher auf seinen Schreibtisch.
»Diese Texte dürften kein Problem für Sie sein«, sagte er und zeigte ihr die mit Lesezeichen markierten Passagen. »Rowan hat die französischen Bücher für mich übersetzt, aber Deutsch und Spanisch beherrscht sie nicht.«
Jessa war überrascht. »Rowan spricht Französisch?«
»Nein, aber sie kann es lesen, das hat sie sich wegen der Kochbücher beigebracht.« Er legte Schreibtafel und Stift neben die Bände. »Würden Sie, was Sie lesen, bitte ins Englische übersetzen?«
»Das kann ich machen.« Sie sah kurz zu ihm hoch. »Ich dachte, Sie können alle diese Bücher selbst lesen.«
»Nur die auf Latein und auf Englisch«, antwortete er. »Die Geschichten in anderen Sprachen hat mir ein Übersetzer vorgetragen, aber damals habe ich noch nicht geschrieben.«
Sie verstand nicht recht, was er meinte. »Sie konnten damals nicht auf Englisch schreiben?«
»Bis vor zehn Jahren konnte ich weder schreiben noch lesen«, gab er zu. »Rowan hat es mir beigebracht, aber ich bin ein schlechter Schüler.«
Sie war entsetzt. »Wie wunderbar, dass Sie es trotzdem versuchen. Konnten Sie als Kind denn nicht zur Schule gehen?«
»Doch, aber nicht, um Schreiben und Lesen zu lernen.« Er wollte noch etwas sagen, überlegte es sich aber anders. »Ich lasse Sie jetzt allein.«
Nachdem er gegangen war, überflog Jessa das erste Buch. Es war in modernem Spanisch verfasst und beschrieb einige Verfahren, die im späten vierzehnten Jahrhundert in Madrid vor Kirchengerichten stattgefunden hatten. Der Verfasser, ein bekannter Historiker, hatte einige mittelalterliche Dokumente übersetzt, auf die er beim Durchforsten der Gerichtsunterlagen gestoßen war. Jessa entdeckte eine erschreckende Passage über die Verurteilung eines Tempelritters, der der Verfolgung in Frankreich entkommen, in Spanien aber verhaftet worden war.
Der Flüchtling weigerte sich, dem Gericht seinen Namen zu sagen, seine Komplizen zu nennen oder überhaupt zu reden, auch unter dem Druck der Folter. Der Großinquisitor beobachtete, dass der Gefangene – obwohl er Essen und Trinken nicht bei sich behalten konnte – einige Monate lang unnatürlich kräftig und unempfindlich gegen Schmerzen blieb. Das wurde zunächst dem Bösen zugeschrieben, das seine Seele ergriffen und so die Herrschaft über seine sterbliche Hülle erlangt hatte, doch dann kam aus Rom ein Sonderinquisitor, um den Gefangenen zu befragen. Der italienische Priester benutzte Werkzeug aus Kupfer, dem einzigen Metall, das die Haut des Ritters durchdringen konnte, sowie Weihwasser, das die Haut des Gefangenen brennen ließ. Ehe ihm aber ein Geständnis abgepresst werden konnte, nahm der Gefangene sich das Leben, indem er sich einen Kupferdolch des Inquisitors ins Herz stieß. Seine letzten Worte waren angeblich: »Der Tod konnte mich nicht im Grab halten, und auch ihr haltet mich nicht gefangen, bis ich verrotte.«
Jessa las sich ihre Übersetzung durch und schloss das Buch langsam. Der Text war fesselnd und passte zweifellos zu Matthias’ Theorie, aber der Historiker hatte die Quellen aus dem Mittelalter wahrscheinlich überinterpretiert. Sie war verlockt, weiterzulesen und zu schauen, was in den anderen Büchern stand, doch dadurch würde sie Zeit vergeuden, die sie für das Durchsuchen der
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