Dunkle Beruehrung
Bibliothek brauchte.
Sie fing mit dem Schreibtisch an, der unverschlossen war, dessen Schubladeninhalt sich aber als ganz gewöhnlich erwies: viele Kugelschreiber und Bleistifte, leeres Papier und eine Mappe mit ein paar Zeitungsausschnitten. Sie ging die Artikel durch, die sich alle um Leute drehten, die in Europa und den USA verschwunden waren. Der letzte Text war die Titelgeschichte darüber, dass sie wegen Totschlags an Bradford Lawson gesucht wurde; es handelte sich also um den Artikel, den Matthias ihr schon gezeigt hatte. Keine der Personen aus den anderen Artikeln wurde eines Mordes oder Totschlags bezichtigt, aber der gemeinsame Nenner aller Beiträge war, dass diese Personen – so wie sie selbst – plötzlich verschwunden waren, ohne Hinweise auf ihren Aufenthaltsort zu hinterlassen.
Waren das die anderen Kyndred, von denen Matthias gesprochen hatte? Hatte er vor ihr all diese Leute entführt? Sie zählte die Artikel – es waren über zwanzig.
Sie stand auf, ging langsam in der Bibliothek umher, besah sich alle Regale und schaute hinter die Buchreihen. Bis auf etwas Staub und Spinnweben entdeckte sie nichts.
Vor dem Kamin blieb sie stehen und sah zu dem alten Bronzeschwert in der Vitrine hoch. Die dunklen Flecken auf der Klinge stießen sie weiterhin ab, doch wie die Waffe das Licht spiegelte, ließ sie hochlangen und das Glas berühren.
»Ist hermetisch versiegelt«, sagte Rowan hinter ihr, und Jessa zuckte zusammen und fuhr herum. Das Mädchen schenkte ihr ein frostiges Lächeln. »Das bekommen Sie da nur raus, indem Sie die Scheibe zertrümmern. Und dafür brauchen Sie einen Vorschlaghammer.«
»Ich war nur neugierig«, gab Jessa mit ausdrucksloser Miene zurück. »Ein so altes Schwert habe ich nie gesehen.«
»Vor zweitausend Jahren waren die groß in Mode.« Rowan stellte einen dampfenden Becher auf den Schreibtisch. »Matt dachte, Sie möchten vielleicht einen Tee.«
Jessa war etwas durstig. »Danke, das ist sehr nett.«
Das Mädchen ging nicht darauf ein, sondern besah sich das Notizbuch mit der Übersetzung. »Schöne Handschrift. Sie setzen auf jedes ›i‹ einen Punkt und vergessen nie den Strich durchs ›t‹ – stärken Sie auch Ihre Unterwäsche?«
Jessa beschloss, ihren Sarkasmus mit einem Kompliment zu kontern. »Matthias hat mir erzählt, Sie haben ihm Lesen und Schreiben beigebracht. Ich finde das wirklich nett von Ihnen.«
Das Mädchen blickte so finster drein, als hätte Jessa etwas Beleidigendes gesagt. »Er ist nicht dumm, wissen Sie. Es ist nicht seine Schuld, dass er nie Gelegenheit bekam, zur Schule zu gehen.«
»Ich halte ihn ganz und gar nicht für dumm«, erwiderte Jessa. »Aber er muss aus einem sehr armen Land stammen.«
»Hören Sie auf, mich zum Plaudern verleiten zu wollen, Prinzesschen, und trinken Sie Ihren Tee«, erwiderte Rowan und schlenderte hinaus.
Jessa kehrte an den Schreibtisch zurück, nahm das Notizbuch und wendete es, während sie sich im Zimmer umsah, in den Händen. Dann starrte sie auf den Kamin. Das aus Ziegeln erbaute Sims und der Kaminboden ragten gut dreißig Zentimeter aus der Wand und schienen aus verschiedenen Teilen zu bestehen. Sie ging hin und besah sich die Seiten. Dann fiel ihr an den Ziegeln etwas auf.
Als Kind war sie auf den städtischen Plätzen über Hunderte von Wegen gelaufen, bei deren Ziegeln es sich meist um von Sklaven aus dem Lehm des Flusses geformte Pflastersteine gehandelt hatte. Die Farbe dieser Ziegel war einzigartig und wurde seit Langem als »savannahgrau« bezeichnet.
Und der Kamin war aus solchen Ziegeln gebaut. Jessa hockte sich nieder und berührte die warme, raue Oberfläche des Kaminbodens. Die altertümlichen, bei Bauherrn und Restauratoren so begehrten Ziegel waren sehr selten und außerhalb der Stadt praktisch kaum anzutreffen. Entweder war sie also zurück in Savannah oder zumindest ganz in der Nähe.
Tränen traten ihr in die Augen. Sie hatte sich gelobt, nie wieder in die Stadt ihrer Kindheit zurückzukehren, denn das wäre zu gefährlich. Sie hatte alles bitter bereut, was sie hatte opfern müssen, um sich eine neue Identität zu schaffen, aber nachdem sie auf der Intensivstation erwacht war und entdeckt hatte, dass die tödliche Schussverletzung in ihrer Brust binnen kaum zwölf Stunden völlig ausgeheilt war, hatte sie Panik bekommen und war geflohen. Und seither war sie auf der Flucht.
Jessa legte eine Hand an die Ziegel, um aufzustehen, und spürte, dass sich unter ihren Fingern etwas
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