Dunkle Beruehrung
Jenseits. Sie wusste, er war für immer fort. Ein Therapeut hätte ihr gesagt, sie rede bloß mit sich selbst. Doch falls sie sich vielleicht doch irrte und die Seelen der Toten um die Lebenden spielten, sollte er das erfahren. Er war immer die Liebe ihres Lebens gewesen – und er würde es verstehen.
Ihr Handy surrte in der Tasche, und sie spürte etwas Salziges auf der Zunge. Jessa wischte die Tränen weg, die ihr unbemerkt über die Wangen gelaufen waren, und sah aufs Display:
Aphrodite
.
Wie immer war der Text kurz und ungeschönt:
Machst du dich mal wieder im Park fertig, Jez?
Jessa simste als Antwort nur:
Jetzt nicht, Di
.
Sprich mit mir
. Die Frau, die sie nur als »Aphrodite« kannte, schickte die Zeichnung eines lächelnden Gesichts, das irgendwie ein Rosenbukett zwischen den Zeilen schwenkte, auf denen die übrige Nachricht erschien.
Oder ich texte dich damit zu, was in der neuesten Folge von
Grey’s Anatomy
passiert. Szene für Szene.
Dieser Scherz entlockte Jessa ein Schmunzeln.
Oh Gott, bloß das nicht. Ich hab einen schlechten Tag, aber ich werde nicht jammern. Was gibt’s?
Di leitete ihr eine Mail von Vulkan weiter und schrieb dazu:
Vulkan glaubt, er hat wieder einen Takyn gefunden und möchte einen Gruppen-Chat
.
Der Mann, den sie als »Vulkan« kannten, war ihr oberster Kundschafter. Seit Jessa, Aphrodite und die Übrigen vor drei Jahren die Takyn gebildet hatten – ihre versteckt agierende Selbsthilfegruppe im Netz –, suchte er nach anderen, die so waren wie sie. Vulkan nahm diese Sache ernst; das einzige Problem, das sie alle gemeinsam hatten, war zu gefährlich.
Hab ich dir doch gesagt
, schrieb Aphrodite, als Jessa nicht antwortete.
Es gibt noch mehr. VIEL mehr. Mindestens vierzig oder fünfzig.
Ich lese die Mail schon noch
. Mehr wollte Jessa nicht versprechen.
Steigere dich da nicht so rein
.
Reinsteigern?,
schrieb Aphrodite zurück.
Die Sache ergibt allmählich Sinn
.
Scham zuckte in Jessa auf. Di hatte alle Höllenkreise durchmessen, und Jessa hatte kein Recht, über die Hoffnungen ihrer Freundin zu spotten.
Dein Wort in Gottes Ohr. Ich muss los
.
Bis später.
Jessa beendete die Verbindung, schaltete ihr Handy ab und nahm SIM -Karte und aufladbare Batterie heraus. Das hatte Vulkan ihr beigebracht: Wer sie aufgrund ihres Funkverkehrs orten wollte, verlor so ihr Signal.
Wer sollte uns finden wollen?,
hatte sie ihn einmal gefragt.
Bei dem, was wir können?,
hatte er zurückgeschrieben.
Praktisch jeder
.
Als Jessa mit Aphrodite das private Netzwerk gegründet hatte, waren die anderen, die sie über das Internet gefunden hatten, sehr reserviert und misstrauisch gewesen – ihnen gegenüber, aber auch untereinander. Mehr als ein Jahr hatten sie vorsichtigen Smalltalk führen müssen, bevor sie sich einander öffneten. Das war für die gesamte Gruppe ein gewaltiger Trost gewesen, hatte ihre Paranoia aber noch verstärkt. Um jeden zu schützen, hatten sie beschlossen, anonym zu bleiben. Niemand nannte seinen wirklichen Namen, das Alter oder die Adresse oder bezog sich auf ein Detail, anhand dessen jemand zu identifizieren war, auch nicht bei Gruppentreffen.
Für Aphrodite und die Übrigen war Jessa die Gründerin der Takyn, und sie kannten sie unter dem Namen Jezebel.
Vulkan hatte sich bestimmt nicht vertan, denn die Aufnahmekriterien waren sehr genau festgelegt: Die Person musste zwischen sechsundzwanzig und vierunddreißig Jahre alt und durch eine Adoptionsagentur vermittelt worden sein, die die katholische Kirche nur in wenigen Städten betrieb; auch durfte es keine Aufzeichnungen über die leiblichen Eltern geben, und auch in staatlichen Waisenhäusern durften sich über die Kinder kaum offizielle Unterlagen befinden; die Paare, die ein Kind adoptiert hatten, mussten zudem reiche oder doch wohlhabende und strenggläubige Katholiken ohne eigenen Nachwuchs und ohne andere Adoptivkinder sein.
Schließlich musste die infrage kommende Person einen grausigen Unfall oder eine tödliche Krankheit auf wundersame Weise überlebt haben und seit ihrer Gesundung ein besonderes Merkmal besitzen, das sie vor allen Menschen geheim zu halten gezwungen war.
Aphrodite war die erste Takyn, der Jessa begegnet war. Sie hatten sich in einem Forum erwachsener Adoptivkinder, die ihre leiblichen Eltern suchen, kennengelernt und angefangen, Mails zu schreiben. Was Di ihr schrieb, hatte Jessa erst empört, doch dann hatten sie ihre Biografien verglichen und festgestellt, wie sehr ihre
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