Dunkle Beruehrung
den Türen und der alte Ziegelboden ließen sie begreifen, dass sie sich nicht in einem Flur, sondern in einer Art Tunnel befand.
Einem Tunnel worunter?
Jessa hatte mit genug New Yorkern gearbeitet, um zu wissen, dass der Akzent des Mädchens typisch Brooklyn war. Ob man sie dorthin gebracht hatte? Mit dem Auto von Georgia nach New York zu fahren, dauerte fast einen Tag, aber die Uhr in der Bibliothek hatte Viertel nach sieben gezeigt. Allerdings wusste sie nicht, ob es Morgen oder Abend war. Hatte Matthias ihr Drogen verabreicht? Wie lange war sie bewusstlos gewesen?
Möglichst geräuschlos schlich sie an den Türen entlang zum Ende des Gangs, musste dort aber feststellen, dass er sich in zwei Richtungen teilte. Sie nahm den rechten Tunnel, der sich nach sechzig Metern erneut teilte. Dort ging sie links und wieder rechts und blieb schließlich stehen. Wo sie auch sein mochte – sie befand sich in einem Labyrinth ohne Hinweis auf Ausgänge oder das, was hinter den zweiundzwanzig Türen lag, an denen sie inzwischen vorbeigekommen war.
Jessa ging zur nächstgelegenen Tür, wappnete sich innerlich, öffnete sie und blickte in einen flachen Wandschrank voller kleiner, brandneuer Küchengeräte. Im obersten Regal befanden sich Dosenöffner, gleich darunter Kaffeemaschinen, und auf dem dritten stand ein Sortiment an Mixern. Alles war penibel aufgereiht und originalverpackt, ergab aber keinen Sinn. Wer brauchte schon elf Dosenöffner oder neun Kaffeemaschinen?
Sie ging zur nächsten Tür, doch wieder kam nur ein Wandschrank zum Vorschein, diesmal voll aufrecht stehender, farblich geordneter Ballen mit Designerstoffen – genug, um Fenstervorhänge für ein Dutzend Häuser zu schneidern.
Oberhalb der Ballen lagerten mindestens fünfzig Rollen Satinschnur und obendrein durchsichtige Plastiktüten mit den verschiedensten Hängequasten.
Zu ihrer Besorgnis trat nun Verwirrung. Sie hatte mit Schusswaffen gerechnet, mit Männern, die sich um ein Telefon drängten, oder zumindest mit einem finster dreinblickenden Wächter, der sie packte und mit vorgehaltener Waffe zurück in die Bibliothek geleitete – und stattdessen stand sie vor der neuen Vorhangs-Frühjahrskollektion der Hausfrau der Nation, Martha Stewart.
Vom Ende ihres Gangs her hörte sie Stein gegen Stein knirschen. Rasch schloss sie den Schrank und folgte dem Geräusch zur letzten Tür vor einer weiteren Verzweigung. Diese Tür stand ein Stück offen, und sie drückte sich an die Wand, ehe sie um die Ecke zu spähen wagte.
Von ihrem Standort aus ließ sich fast das halbe Zimmer einsehen. Kerzenschein und ein prasselnder Kamin erfüllten den Raum mit warmem, flackerndem, bernsteinfarbenem Licht und warfen Schatten auf – wie es schien – kleine, sauber errichtete Stapel aus glatten, steinernen Scheiben. Jessa hätte sie für Gartenplatten oder Trittsteine gehalten, doch sie alle besaßen ein Loch in der Mitte, aus dem ein gut ein Meter hoher Holzstab ragte. Auf einigen Scheibenstapeln lagen weiße Lederriemenbündel und etwas, das nach langen Gürteln mit seltsamen Aufhängeösen aussah. Die Wände waren kahl, und am Boden lag nur eine dünne Schicht weißer Sand.
Sie lauschte, hörte aber nur das Knirschen und schob die Tür behutsam ein wenig weiter auf.
Ein barfüßiger Mann in alter, weiter Khakihose stand mit ausgestreckten Armen abgewandt da. Um beide Handgelenke trug er einen breiten Lederriemen, an dem je eine Steinscheibe hing. Langsam führte er die Arme über dem Kopf zusammen, was die Steine kratzend aneinanderstoßen ließ. Dann senkte er die Hände wieder ebenso langsam, diesmal aber diagonal, sodass seine Arme ein umgekehrtes V beschrieben. Nach mehreren ähnlichen Bewegungen war Jessa klar, dass er trainierte und die Steinscheiben seine Hanteln waren.
Fasziniert von den kräftigen Linien seines Oberkörpers, vermutete sie, dass er diese Gewichte nicht zum ersten Mal einsetzte. Sie hatte viele Männer mit Hanteln trainieren sehen, aber so einen nie. Er schien nur aus vollkommenen Muskeln zu bestehen, die er nicht bloß aufgebaut hatte, sondern die brutal schön, dick und glatt waren und die Hälften seines Leibes in absoluter Symmetrie umspannten.
Unliebsame Hitze kroch ihr den Nacken herauf, schnürte ihr die Kehle zu und ließ sie genauer hinsehen. Ihr Körper reagierte auf den Anblick all dieser männlichen Schönheit wie der eines hirnlosen Betthäschens und schien nur noch aus flatternden Nerven und rauschendem Blut zu bestehen. Vom
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