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Dunkle Beruehrung

Dunkle Beruehrung

Titel: Dunkle Beruehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Viehl
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Manhattan und ging dort ganze Reihen von Restaurants ab, lief vor den Fenstern hin und her und blieb mitunter stehen, um den reichen Leuten beim Prassen zuzusehen. Die Menschen waren ihr egal, sie waren nicht besser als sie, aber ihr Essen war so wundervoll und so herrlich angerichtet, dass ihr manchmal Tränen in die Augen traten. Normalerweise schickte der Geschäftsführer einen Kellner oder Abräumer nach draußen, um sie zu verjagen, aber das war nicht das Schlimmste gewesen.
    Besucher, die aus dem Restaurant kamen, bemerkten sie bisweilen und boten Rowan ihre für Zuhause eingepackten Essensreste an.
    Dann spürte sie, wie ihr die Scham über ihr Tun und ihr Dasein über die schmutzige Haut kroch, und sie fuhr in ihren Lumpen zusammen und stolperte davon. Aber erst nachdem sie sich die Reste geschnappt hatte. Denn so sehr jeder Bissen ihrer Würde zusetzte, so sehr hielt er auch das Gespenst des Hungers einen Tag länger in Schach.
    Rowan hatte nicht wie ein streunender Hund leben, sondern Arbeit bekommen wollen und sich sogar zu den Illegalen an bestimmte Straßenecken gestellt, wo jeden Morgen Leute aufgelesen wurden und für zehn Stunden harte Schufterei zwanzig Dollar bekamen – ob sie nun L kws entluden oder Schutt von Abrissbaustellen karrten. Aber sie war nie in eins dieser Arbeitsteams aufgenommen worden, obwohl man sie allgemein für einen Jungen hielt – sie war einfach zu mager und zu blass. Einer hatte ihr sogar mal gesagt, er beschäftige keine Drogensüchtigen.
    Da sie keine Diebin oder Hure werden wollte, hatte Rowan versucht, weggeworfene Flaschen und Dosen aus dem Müll zu fischen, doch das dauerte Stunden, und die Jagd danach verbrauchte viel zu viele Kalorien. Außerdem konnte sie nur so viel zum Wertstoffhof bringen, wie sie zu tragen vermochte, und kam so stets nur auf einen Dollar hier und da. Sie erinnerte sich noch genau an den Augenblick, als sie das erste Mal so verzweifelt gewesen war, von einem halb verzehrten, aus einem Müllcontainer gezogenen Brathähnchen zu kosten – und daran, dass ihr von dem verdorbenen Essen schlecht geworden war und sie sich Minuten später die Seele aus dem Leib gekotzt hatte.
    Bis heute ertrug sie den Geruch von Brathähnchen nicht.
    In ihrem letzten Jahr als obdachloses Kind dachte sie nur noch ans Essen und stellte sich in Tagträumen vor, welch raffinierte Speisen sie eines Tages zubereiten würde, wenn die Dinge besser stünden. Immer wenn im Schaufenster eines Elektrogeschäfts eine Kochshow lief, blieb sie vor dem Fernseher stehen und verfolgte sie bis zum Ende. Und wenn sie an kalten Tagen in die Bibliothek ging, um sich aufzuwärmen, verbrachte sie den Nachmittag mit dem Lesen von Kochbüchern.
    Die Angst zu verhungern folgte ihr in den Schlaf und ließ sie in Albträume stürzen, in denen sie ihren Körper binnen Sekunden zu Haut und Knochen schrumpfen sah. Beim Aufwachen rollte sie sich dann zusammen und tastete sich ab, um sich zu vergewissern, dass sie noch immer etwas Fleisch unter der kalten, klammen Haut hatte.
    Ohne die Schwestern wäre Rowan womöglich auf diese Weise geendet.
    Sie hatte sie getroffen, als sie am Erntedanktag vor einer Kirche um eine kostenlose Abendmahlzeit angestanden hatte. Die Schlange war sehr lang, und gerade als sie an die Reihe kam, war das Essen alle. Eine alte Dame, die Kärtchen austeilte, auf denen der Weg zu einer anderen Suppenküche beschrieben war, hatte sie an der Hand berührt, und Rowan hatte sich unwillkürlich an ihr festgehalten.
    Die Dame hatte Rowan unverwandt gemustert und sie dann plötzlich gebeten, mit ihr nach hinten zu kommen und ihr beim Geschirrspülen zu helfen. Da sie nichts Besseres zu tun hatte, war Rowan ihr gefolgt.
    »Hier.« Statt ihr ein Geschirrtuch zu geben, hielt die Dame ihr eine weiße Schachtel hin. »Das ist eine Lunchbox. Die hat jede von uns dafür bekommen, dass wir heute hier gearbeitet haben.«
    »Das kann ich nicht annehmen.« Rowan war sofort beschämt und wollte ihr die Box zurückgeben. »Dieses Essen ist für Sie.«
    »Ich mach mir nicht viel aus Truthahnsandwiches – die sind mir zu trocken.« Ihre dünnen Lippen kräuselten sich. »Wenn du sie nicht nimmst, werf ich sie weg.«
    Damit war Rowan überzeugt und wollte schon mit der Box gehen, doch die alte Dame bat sie, sich an den Tisch zu setzen, ließ sich neben ihr nieder und erzählte ihr von ihrem Leben in New York seit den Vierzigerjahren und davon, wie schwer es für alleinstehende Frauen war, sich

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