Dunkle Beruehrung
Blut als unkontrollierbar und mörderisch dargestellt hatten.
Die Wahrheit war weit komplizierter. Nach der Rückkehr von den Kreuzzügen waren Lucan und viele weitere als Tempelritter bekannte Ordenskrieger an der Pest erkrankt und gestorben. Drei Tage nach ihrem Tod waren sie wieder zum Leben erwacht, hatten sich aus ihren Gräbern befreit und waren auferstanden, um bei Nacht durch die Welt zu ziehen. Die Krieger hatten gemerkt, dass sie keine Menschen mehr waren, sondern Vampirwesen, die sich nur von Menschenblut ernähren konnten. Auch waren sie unglaublich stark und schnell und fast nicht umzubringen, weil ihre Wunden nahezu sofort wieder heilten. Jeder dieser verwandelten Krieger verfügte über eine einzigartige übernatürliche Gabe und obendrein über einen berauschenden körpereigenen Duft, und diese Kombination erlaubte ihnen, Menschen zu bezaubern und ihren Verstand zu beherrschen. Diese Wesen wurden als »dunkle Verwandte« (oder »dark Kyn«) der Menschheit bekannt.
Die Darkyn begriffen bald, dass sie sich und die Ihren schützen mussten, und bildeten deshalb als
Jardins
bekannte Geheimgesellschaften mit eigenen Herrschern, Territorien und Festungen. Und sie merkten, dass sie zum Überleben keine Menschen töten mussten, sondern mit ihnen zusammenleben und sich so unter ihnen verstecken konnten. Sie verwandelten einige Menschen in Wesen wie sie und nutzten andere, zuverlässige Sterbliche als Diener und Wächter.
Ein Jahrhundert verging und danach geschah zweierlei: Die Darkyn verloren die Fähigkeit, Sterbliche in Wesen wie sie selbst zu verwandeln (und jeder solche Versuch erwies sich für die Sterblichen als tödlich). Und zugleich bemerkte eine Gruppe religiöser Eiferer die Existenz der Darkyn und gelobte, auf die früheren Templer Jagd zu machen und sie umzubringen. Diese Fanatiker bildeten einen als »Die Brüder« bekannten Orden und verfolgten als angebliche katholische Priester die Darkyn in ganz Europa. Sie jagten die früheren Templer, nahmen sie gefangen, folterten und töteten sie, begriffen dann jedoch, dass sie ihre Feinde nicht überleben würden. Also begannen sie, ihre eigenen Nachfolger heranzuziehen und auszubilden, und dieser geheime Krieg zwischen den Brüdern und den Darkyn dauerte nun schon sechshundert Jahre.
Erst Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts hatte Michael Cyprien, der über alle
Jardins
Amerikas herrschende Seigneur, eher zufällig einen Menschen in eine Darkyn verwandelt: Dr. Alexandra Keller, die er entführt und gezwungen hatte, sein zerstörtes Gesicht chirurgisch wiederherzustellen, war seit sechs Jahrhunderten der erste Mensch, der den Prozess der Verwandlung überlebt hatte – laut Alexandra nur deswegen, weil die Brüder sie zuvor genetisch verändert hatten, um aus ihr eine Vampirjägerin zu machen. Und indem Lucan Samantha, die an einer tödlichen Schusswunde zu sterben drohte, Alexandras Blut zugeführt hatte, hatte er Sam in eine Darkyn verwandelt.
Lucan hatte nie bereut, Sam das Menschsein genommen zu haben, um sie aus der kalten Umklammerung des Todes zu retten. Damals wusste er bereits, dass er sie mehr liebte als alle Frauen, die er je gekannt hatte – sogar mehr als die Frau, die er einst für die große Liebe seines Lebens gehalten hatte. Samantha zu verlieren wäre gleichbedeutend mit Selbstmord gewesen. Doch trotz ihrer Verwandlung hatte sich seine
Sygkenis
noch immer nicht damit abgefunden, was sie geworden war. Manchmal fragte Lucan sich, ob sie das je tun würde.
Samantha verzichtete darauf, den Wächter zu bezaubern, denn sonst hätte der Sterbliche ihr nicht so wortkarg und ausweichend geantwortet. Noch immer bestand sie darauf, sich menschlicher Vorgehensweisen zu bedienen – eine Praxis, die er für reizend naiv, aber auch für überaus unwirksam hielt. Müde, wie er war, verlor er bald die Geduld und stieg aus dem Ferrari, um sich den Wächter selbst vorzuknöpfen.
»Wolltest du nicht im Auto bleiben?«, fragte sie, als er zu ihr trat. Ihre Augen wurden schmal, als sein Geruch die Luft erfüllte.
»Ich habe jetzt zwanzig Minuten gewartet. Das hier geht schneller.« Er wandte sich zum kleinen Fenster der Baracke. »He, Wächter – helfen Sie mir.«
»Sir, wie ich der Polizistin schon gesagt habe …« Der Sterbliche atmete ein, blinzelte und lächelte ihn dümmlich an. »Was kann ich für Sie tun?«
»Wo wurde Ihr Kollege gestern Abend ermordet?«, fragte Lucan.
»Gleich da vorn.« Der Wächter wies auf die andere Seite
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