Dunkle Diamanten (Shades of Brilliance) (German Edition)
Merensky war ein sehr guter Lehrmeister für einen aufmerksamen Schüler wie Robert.
„Nun, Mr. Holborn, das Studium des atomaren Aufbaus eines Diamanten legt die Vermutung nahe, dass es sich bei den Farben um eine Veränderung des Atomaufbaus oder um Fremdelemente im Kohlenstoff handeln könnte. Vielleicht beides. Es gibt noch keine Technologie, mit der man einen Nachweis erbringen könnte, aber eine logische Erklärung wäre es allemal.”
Holborns schwere Lider hoben sich ein wenig. Wer ihn kannte, wusste das als ein Zeichen höchsten Interesses zu deuten. Dem einfachen Betrachter jedoch erschien der Gemmologe nach wie vor reserviert und von höflicher Distanz. Dreißig Jahre im harten Diamantgeschäft hatten ihn gelehrt, alle Emotionen zu verbergen. Emotionen waren gefährlich, galten als unprofessionell und wirkten sich verheerend auf die Preise aus. Er schlug die Augen nieder und tupfte wieder mit der Pinzette in dem Vermögen auf dem weißen Samt herum, immer sorgfältig darauf bedacht, dass ein Stein den anderen nicht berührte, denn ein Diamant konnte den anderen beschädigen, konnte winzige Kratzer in die sorgfältige Politur der Oberfläche bringen und den Wert des Steins vermindern. Robert erklärte Holborn in kurzen, aber anschaulichen Worten den atomaren Aufbau eines Diamanten, jedenfalls so viel man zu diesem Zeitpunkt davon wusste.
Roger Holborn schien beeindruckt: „Ich weiß das Privileg zu schätzen, Mr. von Wolf, dass Sie so eine interessante Theorie mit mir teilen.” Die halb verhangenen Augen ruhten nachdenklich auf Robert, und er ließ seine Pinzette wieder über das Vermögen auf seinem Sortiertisch kreisen wie ein Raubvogel über seiner Beute. „Hans hat ein bemerkenswertes Talent, immer wieder außergewöhnlich begabte Leute für sein Team zu finden. Ihr Schiff läuft übermorgen von Dover nach Kapstadt aus, nicht wahr?”
Robert nickte. „Ja. Ehrlich gesagt, ich bin sehr aufgeregt. Ich habe Deutschland noch nie verlassen. Die Kriegszeit, wo ich als Soldat in Frankreich stationiert war, möchte ich wirklich nicht als Auslandserfahrung zählen.”
Holborn stimmte zu: „Eine gute Einstellung. Fangen Sie neu an und bestimmen Sie ihren Weg selbst. Der Krieg war ein schlechter Start, aber Sie haben ihn wenigstens mit heiler Haut überlebt. Afrika wird ihnen guttun, sie scheinen mir das Zeug dazu zu haben. Man bekommt über die Jahre einen Blick dafür, glauben Sie mir. Ehm … ich treffe mich heute Abend mit ein paar Bekannten zum Dinner im Athenaeum Club, warum kommen Sie und Hans nicht dazu? Vorausgesetzt natürlich, Sie sind noch nicht von jemand anderem gebucht.”
Merensky signalisierte unbeeindruckt seine Zustimmung. Sie waren jetzt knapp eine Woche in London, und Hans hatte zwei weitere Investoren für die Prospektion südlich d er Oranje-Mündung gewonnen. Der Besuch bei DePass geschah aus reiner Höflichkeit, Merensky hatte dort kein Wort über die Expedition erwähnt. Er hatte sicher gute Gründe. Nun war ihre Aufgabe in London erledigt, und Robert sollte wenigstens ein paar Sehenswürdigkeiten der Stadt bei Tageslicht sehen. Man konnte nicht sagen, dass Merensky London liebte, ein urbanes Lebensgefühl war bei ihm nur sehr schwach vorhanden, aber für ein paar Tage hielt er sich recht gern hier auf. Besonders mit einem Ticket für die Schiffspassage zurück nach Afrika in der Tasche.
Er führte Robert auch nicht nach Hatton Garden, dem Diamant- und Edelsteinbezirk der Hauptstadt, sondern das Victoria Embankment entlang, unter den hellgrün explodierenden Blättern der Promenadenbäume, vorbei an den sonnengelben Narzissenteppichen, ohne die ein englischer Frühling nicht denkbar ist. Es war warm, viel wärmer als in Berlin. Eine starke Frühlingssonne überzog die Themse und die vielen Schiffe mit einem schillernden Lack, ließ rote Backsteinfassaden aufstrahlen und gab den angedunkelten Kalksteinpalästen des Prachtufers ein wenig vom Goldschmelz ihrer Jugend zurück. Sie gingen von der Uferpromenade hinüber zum Temple District, mit seinen Inns of Court, diese Bastion des Common Law, mächtiger als das Parlament und der Buckingham Palast. Kein einzelner hochfahrender Gebäudekomplex mit einer vollbusigen Justitia samt Waagschale, wie sie auf dem Kontinent so beliebt waren, sondern ein eigener Stadtteil für sich, alt und gediegen gewachsen wie eine englische Rhododendronhecke. Ein Bienenstock von Kanzleien, Law Schools und Bibliotheken, verbunden durch verschlungene
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